Datenkolonialismus

Die EU entwicklungshilft mit EDV für Repression und Deportation

Die EU ist nicht nur eine bequeme Bande, über die die Bundesregierung horröse Überwachungsprojekte ins Land spielen kann – zuletzt die Fingerabdrücke im Personalausweis (RHZ 4/2020), aber auch z.B. die Vorratsdatenspeicherung (RHZ 2/2007) –, sie stützt auch ihre Klientelregimes im globalen Süden mit digitalen Repressionssystemen und optimiert gleichzeitig ihr eigenes Abschieberegime. Wer schlechte Laune bekommen will, möge weiterlesen.

Einen gleichzeitig bürokratischen und bedrückenden Blick auf das aktuelle Abschiebewesen der EU gibt die Drucksache COM(2021) 55, die die britische Menschenrechtsorganisation Statewatch vor Kurzem befreit hat [1]. Land für Land prüft darin die EU-Kommission auf einer Art zynischen Charts der Abschiebungen (die geben wirklich Ranglisten), wie bereitwillig sich die jeweiligen Regierungen den Abschiebewünschen des freien Westens beugen. Zum Beispiel wird munter aufgezählt, welche Länder uns gleich per Charterflugzeug deportieren lassen – im Wesentlichen die, denen wir ihre Politik einfach diktieren können, weshalb das für Afghanistan oder das Kosovo gilt, nicht aber für China oder Indien.

Die Kommission lobt im Februar 2021 – am Höhepunkt der von der EU ach so gerne gesehenen Aktionen gegen die dortige Regierung – Belarus (Rang 28 auf den Abschiebe-Charts), Abschiebungen dorthin seien „gut etabliert und effektiv“, das Land akzeptiere problemlos sogar Abschiebungen per Charterflug. Trotz schon 91%iger Erfolgsrate freut sich die Kommission auf ein neues „Readmission Agreement“, das bei den Deportationen in „die letzte Diktatur Europas“ (steht so natürlich nicht in diesem Dokument) zu vereinheitlichten Praktiken, höherer Effektivität und weniger Last für die Verwaltung führen werde.

Weniger zufrieden ist die Kommission mit dem Iran (Rang 9), allerdings nicht, weil der seine Todesstrafe weit häufiger einsetzt als Belarus. Nein, die Kommission wünscht sich „ways to cooperate on forced return along a clear and predictable procedure“, denn der Iran nimmt gegenwärtig offenbar nur Leute, die die EU „freiwillig“ verlassen.

Im Abschnitt über Marokko (mit den meisten Abschiebungen 2019 Rang 1 der Kommissions-Charts) ist die Rede von „good results for about two thirds of the caseload“. „Fall-Last“ für Menschen, die wir in eine ziemlich autoritäre Theokratie abschieben: Das wäre unser Neuzugang des Jahres für das Wörterbuch der Unmenschlichkeit. Demgegenüber ist die Situation in Eritrea (Rang 27) so schlimm, dass die Anerkennungsrate in den meisten EU-Ländern ziemlich hoch ist. In der Folge muss der Bericht „limited operational practice on readmission“ bedauern.

So geht es weiter, Seite um Seite, und es fällt schwer, dabei nicht über Hannah Arendts Banalität des Bösen nachzugrübeln.

An der Wurzel packen

Ein zentrales Thema im Kommissionsbericht ist die Ausstellung von Pässen, denn ohne Pass, ohne Anerkennung von Staatsbürgerschaft, kann die EU noch nicht mal in die ihr ergebensten Klientelstaaten abschieben. „There has to be an App for that,“ haben sich die EU-Planer_innen wohl gedacht, und die vorgeschlagene Lösung wird uns als EU-Untertanen nicht überraschen: Biometrie!

Die EU betreibt ja schon seit zwanzig Jahren eine große Fingerabdruck-Datenbank für Menschen, die hier Asyl suchen. Das System, EURODAC, darf selbstverständlich inzwischen auch für die Strafverfolgung eingesetzt werden. Wie üblich bei Repressionstechnik breitete sich Biometrie nach und nach Richtung der eigenen Untertanen aus, und inzwischen gibts Fingerabdrücke im allgemeinen Polizeisystem SIS und im gegen legal Reisende gerichteten Visa-Informationssystem VIS; über eine effektive Zusammenlegung der verschiedenen Sammlungen diskutiert mensch in der Kommission schon seit Jahren unter dem Label „Interoperabilität“.

Nun also rollt die EU biometrische Repression auch gegen Untertanen anderer Staaten aus, selbst wenn diese nichts mit der EU nichts am Hut haben. Ganz vorne dabei betreibt sie das im Rahmen des freundlich klingenden und auch zu 80% aus dem „Entwicklungshilfe“-Etat finanzierten „EUTF for Africa“. Ausgeschrieben wird eher erkennbar, dass hier kein Bob Geldof am Werk ist: „European Union Emergency Trust Fund for Stability and Addressing Root Causes of Irregular Migration and Displaced Persons in Africa“. Mit anderen Worten: Wir bezahlen afrikanische Regierungen für gewaltsame Migrationskontrolle. Entsprechend sind die Informationen über dieses Programm in 2019 von Privacy International befreiten Dokumenten auch praktisch durchweg geschwärzt [2].

Dennoch ist ziemlich klar, wo die Reise hingehen soll: Die Staaten sollen ihren Bevölkerungen Fingerabdrücke abnehmen und diese in Dateien stecken, die der EU-Abschiebebetrieb nutzen kann. Die entsprechenden Systeme haben auch schon einen Namen: RCMS, Return Case Management Systems. Von denen gibt es tatsächlich schon ein paar, etwa für Armenien oder Sri Lanka. Für ersteres berichtet der oben zitierte Kommissionsbericht enthusiastisch, es erlaube den EU-Behörden, die zur Deportation nötigen armenischen Reisedokumente gleich selbst zu drucken – die EU-Unterhändler_innen haben wohl wirklich die Samthandschuhe ausgezogen, um Armenien zu einer so drastischen Aufgabe der eigenen Hohheitsrechte zu bringen. Auf der anderen Seite ist Armenien natürlich auch von so vielen Feinden umgeben, dass die dortigen Regierungen besonders wenig Verhandlungsspielraum gehabt haben dürften

Civi.Pol Conseil

Was aber tun, wenn es in den Klientelstaaten noch gar keine ordentliche Repressionsinfrastruktur gibt, diese also noch gar nicht die Fingerabdrücke ihrer Untertanen erfasst haben? Nun: „Entwicklungshilfe“.

Ein Fallbeispiel ist der Aufbau einer Fingerabdruckdatenbank für den eingestandermaßen noch relativ liberalen Senegal (Platz 16), über den Privacy International im letzten November Dokumente befreit hat [3]. Auch wenn die exakten Vorhaben natürlich geheim sind, ist ziemlich klar, dass es der EU hier darum geht, Online-Zugriff auf senegalesische Passdaten zu bekommen und diese mit den Fingerabdrücken der Betroffenen anzureichern. Mit diesen kann die EU aufgegriffene Geflüchtete schnell identifizieren und abschieben. Dass das natürlich auch den lokalen Repressionsbehörden weitaus mehr Durchgriff auf widerständige Untertanen gibt: Pech für letztere.

Dafür will die EU rund 40 Millionen Euro „Entwicklungshilfe“ ausgeben. Da hat sich seit Brigitte Erlers Buch über die „Tödliche Hilfe“ (1985) nichts geändert: das Geld subventioniert unsere Industrie und schadet, zumindest über die verschärfte Repression, den Menschen dort. „Unsere Industrie“ ist in diesem Fall ein besonders ekliges Unternehmen namens Civi.Pol Conseil oder kurz Civipol, das sozusagen als Generalunternehmer für das Projekt agiert.

Civipol sitzt mitten im sicherheits-industriellen Komplex: Es ist eine Ausgründung des französischen Innenministeriums (Filmtipp dazu: La Haine von 1995), gehört noch zu 40% dem Staat und ansonsten Waffenschmieden wie Thales und Airbus. Civipol organisiert Waffenmessen mit dem extragruseligen Namen „Milipol“ in Hauptstädten der Menschenrechte wie Doha oder Singapur, hat einen Chef aus dem französischen Geheimdienstsumpf und arbeitet bei all dem noch mit der Weltbank zusammen. „Those who join us do so with the conviction that internal security is also built externally,” schreiben sie munter auf ihrer Webseite.

Vor dreißig Jahren hätten wir den Schwurbel ums „join“ für die Aufnahme von Lohnarbeit weggelassen, und übrig geblieben wäre: Imperialismus und Repression sind zwei Seiten einer Medaille. Das hat damals auch bestimmt wer so geschrieben. Aber weil das noch vor Always-on-Internet war, weiß Google nichts davon.

Und so können wir in diesem Artikel wenigstens noch eine Sache gut finden.

Datenschutzgruppe der Roten Hilfe HD/MA

Kontakt und Artikel-Archiv: https://datenschmutz.de

PGP Fingerprint: 4FD3 B3EE 7FCE 9FFD EC75 CAF9 4847 5F52 5C0C 5DB1

[1]https://www.statewatch.org/media/2297/eu-com-readmission-report-on-cooperation-restricted-com-2021-55-final.pdf
[2]https://privacyinternational.org/legal-case-files/4287/challenging-drivers-surveillance-eu-access-documents-requests-eutf-africa
[3]https://www.privacyinternational.org/news-analysis/4290/heres-how-well-connected-security-company-quietly-building-mass-biometric

Dieser Artikel ist in der Kolumne get connected der Zeitung der Roten Hilfe erschienen. Das Material kann gerne gemäß CC-0 weiterverwendet werden.

get connected wird von der Datenschutzgruppe der Roten Hilfe Heidelberg betreut.