The Last Brick in the Wall

Ab demnächst hat die Polizei alle Fingerabdrücke von Ausländer_innen in der EU

Über 20 Jahre nach der ersten, damals gegen Asylsuchende gerichteten Fingerabdruck-Datenbank der EU wird 2023 mit den Entry-Exit-System der EU der große Traum vieler Polizist_innen und ihrer Fans vollständig sein: Wer als „Ausländer_in“ in den „Raum der Sicherheit, der Freiheit und des Rechts“ (aus dem Orwellianischen übersetzt: Schengenland) kommt, muss seine_ihre Fingerabdrücke abgegeben, und sie werden für viele Jahre für die Polizei suchbar gespeichert.

Diese Entwicklung begann im Jahr 2003, als EURODAC in Betrieb ging, das (wenigstens in der deutschen Jurisdiktion) erste Datenbanksystem, das flächendeckend und massenhaft Fingerabdrücke biometrisch erfasste. In dem Maßstab wäre das vorher wohl nicht möglich gewesen, denn es hätte gar nicht genug Expert_innen gegeben, um den Tsunami an Fingerabdrücken in die Minuzien zu übersetzen, mit denen sie auf Karteikarten oder in konventionellen Datenbanken suchbar wurden. 2003 jedoch waren Computer so weit, dass sie schlichte Scans abgleichen konnten. Na ja: die zweite Voraussetzung für EURODAC war natürlich, dass im ausländerfeindlichen Taumel Menschenrechte zweitrangig waren. Und sind.

Holzklasse: EURODAC

EURODAC enthält Fingerabdrücke von allen Asylbewerber_innen (sowie von Menschen, die mit unzureichenden Papieren in Schengenland oder an seinen Grenzen aufgegriffen wurden) und kann diese, das ist der entscheidende Punkt, auch abgleichen. Wenn irgendwo ein Fingerabdruck ausreichender Qualität auftaucht, wird EURODAC die Person identifizieren, sofern sie innerhalb der letzten 10 Jahre irgendwann in einem Asylverfahren in der EU war und nicht lebend eingebürgert wurde.

Der erklärte Zweck zieht immer bei einer xenophoben Öffentlichkeit: „Asylbetrug“ verhindern, also Versuche, mehrfach Sozialleistungen zu beziehen oder gar einen zweiten Asylantrag zu stellen, der, wer weiß, am Ende noch Erfolg haben könnte. Obendrauf musste auch das fiese Dublin II-Regime technisch umgesetzt werden, nach dem die Staaten mit Schengengrenzen Asylverfahren durchzuführen haben: EURODAC wurde auch gebaut, damit die BRD ihre Asylsuchenden wieder in die Grenzstaaten zurückdeportieren kann.

Wer eine Vorstellung von der EURODAC-Praxis bekommen will, sei auf eine Passage aus dem Kommissionsdokument SWD(2015) 150 verwiesen:

Für den Fall, dass die anfängliche Beratung [des künftigen Speicheropfers, es möge doch bitte die Fingerabdrücke abgeben] keinen Erfolg hat, wird vorgeschlagen, in vollem Respekt für das Verhältnismäßigkeitsprinzip und die EU-Grundrechtecharta auf Zwang zurückzugreifen.

Wir wissen von niemand, der_die durch diesen „Zwang“ ernsthaft verletzt worden wäre, möchten aber lieber nicht darüber nachdenken, woran das wohl liegt. Angesichts der Grobheiten der Polizei bei ED-Behandlungen unkooperativer Schengenländer_innen liegt die Befürchtung nahe, dass die fehlenden Signale im Wesentlichen ein Fehlen von Öffentlichkeit bei der Behandlung der Speicheropfer spiegeln (und ein Desinteresse der Öffentlichkeit an ihr).

Zweite Klasse: VIS

Immerhin war die rechtliche Beschränkung der Nutzung von EURODAC auf Asylverfahren für 12 Jahre stabil. Erst dann standen dessen Fingerabdrücke auch offiziell der Polizei zur Verfügung (die Vermutung, es könne schon vorher dann und wann Amtshilfe gegeben haben, liegt allerdings nahe). Wenig illustriert das Fallen bürgerrechtlicher Standards in der EU so deutlich wie die Tatsache, dass entsprechende Beschränkungen für die weiteren Steine in der Schengenmauer schon während der Gesetzesberatungen fielden. VIS etwa, das Visa-Informationssystem, sollte schon 2005 zumindest auch den Staatsschutzbehörden zur Verfügung stehen.

Diese dystopische Maschinerie kam ab 2015 in den Botschaften und Konsulaten an. Seitdem nehmen die Beamt_innen dort allen, die ein Schengen-Visum bekommen, Fingerabdrücke ab, so dass VIS mittlerweise 50 Millionen davon hat, und zwar jeweils für alle zehn Finger, soweit die Antragstellenden denn so viele hatten. Die Polizeien dürfen diese relativ frei verwenden (Prävention und Repression von „schweren“ Verbrechen), tun das aber offenbar noch nicht routinemäßig: für 2022 spricht die Bundestagsdrucksache 20/5781 von relativ überschaubaren 2000 Verfahren mit VIS-Anteilen.

Andererseits nutzt die Financial Intelligence Unit des Zollkriminalamts VIS offenbar bereits jetzt mit extrem nonchalanter Selbstverständlichkeit. Nur so ist plausibel zu erklären, dass, wie der Bundesdatenschutzbeauftragte in seinem jüngst erschienenen 30. Tätigkeitsbericht erzählt, sie VIS auch dann abfragen, wenn die Betroffenen gar keine Visa brauchten, geschweige denn hatten.

EURODAC-Abfragen dürften demgegenüber bereits Teil des Kanons nach einer ED-Behandlung sein. Darauf deutet schon die Geschichte von Franco Albrecht hin. Das ist der Fascho-Soldat, der sich 2015 eine Tarnidentität als Geflüchteter aus Syrien besorgt hatte, was aufflog, nachdem er am Flughafen Wien-Schwechat mit einer NSDAP-Devotionalie – einer wohl noch funktionsfähigen Pistole – erwischt worden war. Die Behörden haben seine Fingerabdrücke ziemlich schnell in EURODAC gefunden. Wenn sie eine offen gegen Ausländer_innen gerichtete Datenbank für Faschisten mit Bundeswehr-Mitgliedschaft abfragen, fragen sie sie fast sicher für so etwa alle Menschen und jede Spur ab.

Mit EURODAC haben die EU-Behörden die Fingerabdrücke von irregulär Reisenden, mit VIS die von Visapflichtigen. Als Lücke blieben die Ausländer_innen erster Klasse, also die, die ohne Visum einreisen dürfen: im Wesentlichen Touris und Geschäftsreisende aus reputierlichen Staaten. Reputierlich oder nicht: Lücken existieren, um geschlossen zu werden.

Erste Klasse: EES

Dazu bringt die EU in diesem Jahr das Entry-Exit-System EES an den Start. Darin werden Menschen aus dem Nicht-Schengen-Ausland, die visafrei einreisen, bereits vor der Einreise nach US-Vorbild erfasst („ETIAS“). Bei der Einreise selbst werden ihnen dann die Fingerabdrücke einer Hand abgenommen und für fünf Jahre gespeichert (auch hier: erleichterte Bedingungen für die erste Klasse, denn die VIS-Einträge bleiben regulär für 10 Jahre nach dem Ende des Visums). Die Nutzung der Daten durch die Polizei wird aber ganz analog zum VIS ablaufen.

Wirklich bemerkenswert am EES ist, dass sich die breitere Öffentlichkeit überhaupt nicht darum gekümmert hat. Die Gremienberatungen dazu liefen auf EU-Ebene von 2010 bis 2017, über viele Ratssitzungen der Innenminister_innen und jede Menge Trialog. Selbst in einem Blatt wie der taz, dem vielleicht, wenn schon sonst nichts, noch eine gewisse Sensibilität für die Belange von „Ausländern“ zugestanden werden kann, gab es in all den Jahren nur zwei Artikel dazu. Als am 16. März der Bundestag das deutsche Umsetzungsgesetz – in großer Eile, denn dass der Mist aktuell werden würde, war ja erst seit der EES-VO der EU von 2017 bekannt – durchwinkte, geschah das ohne Debatte in zweiter und dritter Lesung. Keine Enthaltungen, immerhin hat die Linke dagegengestimmt. Presseecho: Soweit wir wissen, null. Wen kümmern schon die Menschenrechte der Anderen, jedenfalls, solange sie nicht für „unsere“ strategischen Kalküle taugen?

Denn um Menschenrechte geht es dabei. Fingerabdrücke sind, auch wenn im ARD-Tatort praktisch nur noch Video, DNA und Funkzellen vorkommen, immer noch ein zentrales Ermittlungsinstrument, und ob nun Klebeband an Transparenten oder das Glas von adgebusteten Bushaltestellen: Die Polizei nutzt es breit, auch und gerade im Politbereich, in dem zudem die schwerkriminellen 129er-Paragraphen und damit die problemlose Nutzung der migrationskontrollierenden Datenbanken nie fern sind.

Während also schengenländische Aktivist_innen normalerweise davonkommen, wenn sie bei einer nicht ganz öffentlichen Aktion mal ohne Handschuhe unterwegs sind, ist das für Nichtschengenianer_innen jetzt de facto vorbei, egal, auf welchem Ticket sie ins Land kommen. Die werden beim kleinsten Fehler bei der Fingerhygiene erwischt.

Schlimmes Vorbild

Eingestanden: diese Differenz mag auf Dauer nach unten hin verschwinden. In RHZ 4/2020 hatten wir ja über die Fingerabdruckpflicht in Personalausweisen berichtet, die die Lücke für Inländer_innen perspektivisch schließen könnte. Bei dem Projekt jedoch sind wir noch in der Phase, in der die Abdrücke selbstverständlich nie in einer biometrischen Datenbank gespeichert würden – ihr erinnert euch: „Freiheit, Sicherheit und Recht“. Die Erfahrung mit den biometrischen Fotos in den Personalausweisen, die zumindest in der BRD auch nach 20 Jahren immer noch nicht global matchbar sind, lässt damit erwarten, dass das, was für Ausländer_innen heute schon Praxis ist, für Schengenianer_innen noch eher Jahrzehnte in der Zukunft liegt.

Andererseits kann dieser Kelch auch an uns vorübergehen, weil sie die Technik nicht hinkriegen, so wie beim Online-Zugriff, den sich die Polizeien im Mai 2021 auf die Fotos im Melderegister haben parlamentarisch genehmigen lassen. Der nämlich ist offenbar auch zwei Jahre später nur in zwei Bundesländern möglich. Leider aber kriegen die Lieferanten der Repressionsorgane ihren Kram am Ende doch meist hin, wie das Beispiel des VIS zeigt, das über viele Jahre hinweg stark nach Fiasko aussah und jetzt wohl doch ganz ordentlich funktioniert.

Manchmal verhindern auch Gerichte das Schlimmste; derzeit etwa sind die Fingerabdrücke in Hamburger Personalausweisen nach einem einschlägigen Gerichtsbeschluss ausgesetzt, und es sieht gar nicht mal so schlecht aus für ein Verfahren in der Sache auf europäischer Ebene. Nur zeigt das Beispiel der Vorratsdatenspeicherung, dass sich die Autorilla (d.h. so ungefähr: Polizeien, Innenpolitiker_innen und „Sicherheitsexpert_innen“ in Funk und Fernsehen) auch von sehr klaren Urteilen nicht beirren lässt.

Und so ist es am Ende schon wieder an uns, den ganzen Mist nicht mehr hinzunehmen – und nach Möglichkeit auch dann hinreichend entschiedenen Einspruch anzumelden, wenn es die Daten der Anderen sind, derer sich die Autorilla bemächtigt.

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Dieser Artikel ist in der Kolumne get connected der Zeitung der Roten Hilfe erschienen. Das Material kann gerne gemäß CC-0 weiterverwendet werden.

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