Die Flut von Verfahren, die über politisch aktive Menschen in diesem Land schwappt, ist nicht nur Folge von BeamtInnen im Machtrausch, unfähigen StaatsanwältInnen oder maßlosen Gesetzen. Nein, die häufig hahnebüchenen Vorwürfe zwischen Verstoß gegen das Versammlungsgesetz und Kindesentzug dürfen ruhig eingestellt werden, denn sie füttern als Neben- oder Haupteffekt den unersättlichen Datenhunger der Staatsgewalt.
Noch [1] darf die Polizei nicht einfach etwas wie „X ist bestimmt ein Kommunist und wird von der DDR bezahlt“ speichern, selbst wenn sie davon fest überzeugt ist. Hat aber erstmal ein Verfahren begonnen, können Mutmaßungen und Daten in Nachweissysteme und Vorgangsverwaltungen fließen. Reizvoll wird das, weil auch nach der Einstellung des Verfahrens (etwa: die Staatsanwaltschaft fürchtet, dem Gericht könne der Untergang der DDR nicht verborgen geblieben sein) Daten unter liberalen Bedingungen weitergespeichert werden können.
Ganz so liberal, wie sich Teile der Staatsgewalt das vorstellen, sind die Bedingungen aber auch nicht, auch wenn das Thema durch weitgehende Zuständigkeiten der Länder von reichlich föderalem Barock umflort wird und die Gerichte vor allzu klaren Ansagen meist zurückschrecken.
Zunächst können Vefahren aus unglaublich vielen Gründen und von verschiedenen Parteien eingestellt werden; die Polizei kann auf die Weiterleitung an die Staatsanwaltschaft (StA) verzichten, diese auf die Anklageerhebung, das Gericht kann auf das Hauptverfahren verzichten und schließlich kann auch dieses mit einer Einstellung enden. In jedem Fall gibt es noch einen Strauß von Gründen für die Einstellung, die, speziell, wenn es zum Hauptverfahren gekommen ist, sich in alles mögliche vom Freispruch zweiter Klasse bis zur Ersatzstrafe übersetzen.
Man sollte in diesem Geschäft aber mindestens von zwei Paragraphen gehört haben. Einerseits ist das §170 StPO, der regelt, wie ein Verfahren von der StA zum Gericht kommt. Sein zweiter Absatz sieht vor, dass die StA das Verfahren einstellt, wenn kein genügender Anlass zur Klageerhebung besteht. Dabei kommen viele Gründe („rechtliche und tatsächliche“) in Betracht: es kann z.B. an Tatverdacht mangeln, der/die Betroffene kann zwischendurch verstorben sein („Verfahrenshindernisse“), die StA kann glauben, dass sich das Gericht über einen Prozess wegen eines Schneeballs totlacht usf. Das sind die 170(2)-Einstellungen. Die Beschuldigten erfahren von ihnen überhaupt nur in Ausnahmefällen, insbesondere, wenn es einen Haftbefehl gegeben hat, aber natürlich auch, wenn bei einem späteren Auskunftsersuchen entsprechende Eintragungen in den Polizeidateien auftauchen.
Der andere Paragraph ist §153 mit Freunden. Er tritt auf den Plan, wenn die StA eine Klage eingereicht hat oder wenigstens glaubt, das zu können, aber Gericht und StA das Verfahren an irgendeinem Punkt ohne Urteil beenden möchten. Im Groben geht es normalerweise um „Opportunität“, also darum, etwas, das eigentlich zu verfolgen ist, nicht zu verfolgen, weil es Bibifax ist oder ein „überwiegendes öffentliches Interesse“ (also z.B. ein V-Mensch) auf dem Spiel steht. Zu den Freunden von 153 gehören 153a (das sind die bekannten Auflagen, etwa gemeinnützige Leistungen) oder 153e (Einstellung z.B. gegen Belastung Dritter).
Liegt bei 170(2) eher die Vermutung nahe, der Vorwurf sei aus der Luft gegriffen, wird bei §§153 ff in der Regel davon ausgegangen, dass schon was dran ist, zumal solche Einstellungen meist der Zustimmung der Beschuldigten bedürfen. Wer aber unschuldig ist, an die Justiz glaubt und viel Geld hat, würde ja einen Freispruch erwirken. Diese vielleicht etwas praxisferne Einschätzung gilt jedenfalls überhaupt nicht für 170(2)-Einstellungen, gegen die sich Betroffene praktisch nicht wehren können.
Leider ist mit einer Einstellung ein Fall keineswegs erledigt. §484 Abs. 2 StPO sagt nämlich, Menschen dürften in der staatlichen Datenmühle bleiben, wenn „wegen der Art oder Ausführung der Tat, der Persönlichkeit des Beschuldigten oder Tatbeteiligten oder sonstiger Erkenntnisse Grund zu der Annahme besteht, dass weitere Strafverfahren gegen den Beschuldigten zu führen sind„. Umgekehrt sei zu löschen, wenn “sich aus den Gründen der Entscheidung ergibt, dass der Betroffene die Tat nicht oder nicht rechtswidrig begangen hat“.
Diese Regelung, der die Landesgesetze im Wesentlichen folgen, hat den Segen der Datenschutzbeauftragten des Bundes und der Länder [2] und leider auch die des Bundesverfassungsgerichts (1 BvR 2257/01). Dieses argumentiert zur Verträglichkeit der Regelung mit fundamentalen bürgerlichen Rechtsprinzipien – etwa der Unschuldsvermutung --, „die Aufbewahrung polizeilicher Ermittlungsergebnisse und deren weitere Verwendung in der Polizeiarbeit ist etwas substantiell anderes als die gerichtliche Verhängung einer Strafe“. Deshalb könne selbst bei einem Freispruch weiter gespeichert werden, wenn man in §§483ff StPO oder entsprechenden Landesgesetzen auf der Suche nach Speichergründen fündig werde.
Dies war auch zum Zeitpunkt des Urteils 2002 ein bedauerlicher Irrtum ausgerechnet des Gremiums, das im Volkszählungsurteil anerkannt hat, dass Daten Macht- und Diszplinierungsmittel sind. Um so mehr gilt das heute, da die Instrumentarien der Repressionsorgane exorbitant ausgebaut wurden und vieles, was de facto Bestrafungscharakter hat, von der Polizei einfach aus dem Bauch bzw. der Festplatte heraus durchgeführt werden kann: Anlassunabhängige Kontrollen, deren Ablauf und Dauer wesentlich vom Datenbestand abhängen; Hausdurchsuchungen, die mit Hinweisen aus dem Rechner logisch durch Gefahr im Verzug zu rechtfertigen sind; „Gefährderanschreiben“ und Meldeauflagen, die direkt aus den Datenbanken per Mailmerge erzeugt werden; Versammlungsgesetze, die der Polizei erlauben, VersammlungsleiterInnen bzw. OrdnerInnen nach Datenlage abzulehnen; Ausschreibungen zur Beobachtung, die zu einer Spirale von „Erkenntnissen“ und „Gründen“ führen. Die Liste könnte noch ein paar Spalten füllen, mit einer Revision der dramatischen Fehleinschätzung ist aber nicht in absehbarer Zeit zu rechnen.
So ist also immer wieder Kleinkrieg angesagt – in RHZ 4/2008 hatten wir einen längeren Bericht, wie sowas im schlimmsten Fall aussehen kann. Auf der positiven Seite ist jedenfalls manchen Gerichten auch klar, dass das mit der Speicherung nicht so ganz einfach ist. So hat das VG Berlin 2005 erkannt, die Speicherung eines Sachverhalts (dort sogar nach 153(1) eingestellt) sei ein „Makel“, für dessen Bereinigung es ein „erhebliches Rehabilitationsinteresse“ gebe (Az 1 A 162.01), zumal sich der Beschuldigte in diesem Fall (wie bei 170(2)-Einstellungen normal) gegen die Einstellung auch nicht habe wehren können. Dementsprechend hat das VG Frankfurt 1996 auch klar gestellt, 170(2)-eingestellte Geschichten dürften „allenfalls ausnahmsweise und dann auch nur unter strengen Voraussetzungen“ weiter gespeichert werden (Az 5 E 1632/96 (3)), während der Hessische VGH 2002 präzisiert, bei Weiterspeicherung nach 170(2) müsse die Staatsanwaltschaft konkret benennen, wie es denn zum Restverdacht komme. Diese Prüfung muss – so das Verfassungsgericht 2006, Az 1 BvR 2293/03 – sorgfältig und nicht formelhaft sein.
Nimmt man diese Urteile ernst, ist die gegenwärtige Praxis fast flächendeckender Weiterspeicherung nach Einstellung – insbesondere von ED-Daten – rechtswidrig und sollte leicht angreifbar sein. Häufig dürfte in der Tat die Intervention eines/r Datenschutzbeauftragten helfen, wenn die Polizei nicht schon selbst Einsicht zeigt. Zwischendurch kann es vielleicht kurzfristig helfen, unter Verweis auf ein Urteil des VG Frankfurt von 1996 (Az 5 G 1630/96 (3)) eine Sperrung der Daten bis zur Klärung zu verlangen.
Wenn das aber nicht fruchtet, dürfte ein Gang vor Gericht nur mit langem Atem und tiefen Taschen aussichtsreich sein, denn in Einzelfällen legen sich Gerichte nur ungern fest, während die Staatsanwaltschaften gerne Rechtsmittel über Rechtsmittel einlegen, bis sie Recht bekommen. Speziell im Politbereich ist aber sicher damit zu rechnen, dass sich ein Gericht findet, das die Einschätzung „ÜberzeugungstäterInnen ist alles zuzutrauen“ teilt.
Entsprechende Arbeitswut ist vermutlich besser investiert in eine politischen Bekämpfung der Datensammelwut (und natürlich der immer autoritäreren Formierung des Staates überhaupt).
Das bisher Gesagte bezieht sich in erster Linie auf die Nachweissysteme der Polizei, also die Datenbanken, die „man so kennt“: Die diversen POLASse (oder wie sie dann immer heißen) der Länder, die Datenstaubsauger des BKA, SIS, die Bestände von Bundespolizei und Zoll usf.
In den letzten Jahren haben die Polizeien aber allenthalben ihre Vorgangsbearbeitung auf „EDV-Verfahren“ umgestellt. Dabei werden noch weit größere Mengen personenbezogener Daten verarbeitet und typischerweise auch recherchierbar gemacht. Für den Antirep-Datenschutz tut sich also eine ganz neue Liga auf, zumal in diesen Systemen potenziell alles („Vorgang: Demo“) liegt, und als Anlass der Speicherung ein beliebiger Polizeikontakt („Rudolf Wunderlich hat am 2.12.2008 in alkoholisiertem Zustand bei der Wache Z angerufen“) genügt. Auch die Polizeien sind darauf nicht wirklich vorbereitet und haben schon Auskünfte aus ihren Vorgangsverwaltungen abgelehnt, weil sie dazu keine Regelungen fanden.
Diese Liga wird, nebenbei, noch von einer Art gemischter Vorgangsverwaltung mit Nachweissystem der Staatsanwaltschaften bereichert, dem ZStV. Das ZStV ist nicht nur für eine haarsträubende Politik im Hinblick auf die Erteilung von Auskünften an die Betroffenen berüchtigt, die Staatsanwaltschaft muss (!) nach etlichen Urteilen darin auch eingestellte Verfahren bis zum Ende der Verjährungsfrist speichern.
Noch werden die Vorgangsverwaltungen vermutlich nicht bei Personalienkontrollen u.ä. abgefragt, was zunächst die Dramatik etwas reduziert. Dennoch, dass hier Daten noch lange vor Einleitung von Verfahren gespeichert werden, ist extrem bedrohlich. Dazu kommt, dass es zwar mancherorts Regelungen zu Aussonderungsprüffristen gibt, darüber hinaus die Vorgangsverwaltungen typischerweise als Sammlungen von Microsoft-Hacks mit vielen ad hoc-„Lösungen“ gebastelt wurden, was zwar einerseits hoffen lässt, dass der meiste Kram nicht funktioniert, andererseits aber auch starke Zweifel am Schutz der gespeicherten Daten oder der Einhaltung von Löschfristen begründet.
Fazit: Angesichts des breiten Missbrauchs dürfte es einfach sein, mit vielen Einträgen fertig zu werden. Zumindest muss die Polizei eine Einzelprüfung erkennen lassen, wenn sie 170(2)-Geschichte speichert, und diese darf nicht formelhaft sein. Schon wegen des pädagogischen Effekts sollte man auf einer solchen Erklärung bestehen, wenn die Auskunft entsprechende Daten enthält. Aber leider – auch in diesem Geschäft ist es nicht weit bis zu den Grenzen des Rechtsstaats, und jede Novellierung von Polizeigesetzen verringert die Entfernung weiter.
Datenschutzgruppe der Roten Hilfe Heidelberg
PGP Fingerprint: a3d8 4454 2e04 6860 0a38 a35e d1ea ecce f2bd 132a
[1] | Das neue Polizeigesetz in Baden-Württemberg sieht vor, dass die Polizei für zwei Jahre alles speichern darf. Wie das gehen soll, wissen sicher nicht mal die Leute, die das Gesetz geschrieben haben. Vermutlich kam es zu der Regelung, weil der Landesbeauftragte für Datenschutz regelmäßig haarsträubendste Praktiken des LKA enthüllt hat und der Sicherheitsapparat endlich Ruhe haben wollte. |
[2] | http://www.datenschutz.hessen.de/_old_content/tb23/k31p1.htm |
Dieser Artikel ist in der Kolumne get connected der Zeitung der Roten Hilfe erschienen. Das Material kann gerne gemäß CC-0 weiterverwendet werden.
get connected wird von der Datenschutzgruppe der Roten Hilfe Heidelberg betreut.