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Revision 44 vom 2013-05-07 11:12:24
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Kommentar: Angaben aus Urteil BVerfG
Revision 45 vom 2015-07-27 19:26:02
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Kommentar: + ATD-VwV
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Nach dieser Auflistung ist klar, dass es sich hier ''nicht'' um eine Die relevanten Begriffe für "Volkszugehörigkeit", "Religionszugehörigkeit",
"besondere Fähigkeiten", "Tätigkeit", "besuchte Orte" stehen jeweils in einer
BKA-Verwaltungsvorschrift ("ATD-VwV"; <<Doclink(2015-bka-atdterms.pdf,Fassung von 2015)>>). Dass bei "Volk" neben Belutsche und Dagestaner auch Flame und Este
steht, ist dabei vielleicht etwas überraschend. Besondere Fähigkeiten
sidn fürs BKA nicht nur Sprengstoff, sondern auch Physik und "Technik".
Bei besuchten Orten gibts neben "Koranschule" auch "Verein" und
"Hochschule".

Nach der Auflistung der Datentypen ist klar, dass es sich hier ''nicht'' um eine

"Anti-Terror-Datenbank"

Die ATD ist eine gemeinsame Datei der deutschen Polizeien des Bundes und der Länder sowie der Geheimdienste. Sie wird im Wesentlichen als Nachweisdatei betrieben, d.h. ihr wesentlicher Inhalt sind Verweise auf die Datenbestände der beteiligten Behörden. Die Datenbank wird beim BKA betrieben.

Rechtsgrundlage

Anti-Terror-Datei Gesetz

Das ATDG wurde als Teil des Gemeinsame Dateien-Gesetzes GDG beschlossen, das weitere ähnliche Dateien ohne weitere parlamentarische Beratung erlaubt (vgl. #Trennungsgebot weiter unten).

Zugriffsberechtigte

Daten eingeben und abrufen dürfen das BKA, die Bundespolizei, die LKAs, das BfV und die LfVs der Ländern, der MAD, der BND und das Zollkriminalamt. Der §1, Abs. 2 ATDG sieht vor, dass auch andere Polizeibehörden Zugriff bekommen können, was wohl vor allem auf die Staatsschutz-Abteilungen nachgeordneter Polizeibehörden gemünzt sein dürfte (letztere Klausel darf als Sieg der Polizeien über die Geheimdienste gelten). Ausweislich der Errichtungsanordnung mit Stand vom 4. Juni 2010 haben in drei Bundesländern polizeiliche Dienststellen unterhalb der Ebene der Landeskriminalämter Zugriff auf die Antiterrordatei. (BVerfG, 1 BvR 1215/07 vom 24.4.2013)

Laut Bundestags-Drucksache 16/2877 (2006) haben weder das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (mithin dürften auch keine Datensätze aus dem AZR direkt in die ATD kommen) noch das Bundesamt für Katastrophenschutz Zugriff auf die Datenbank. Ebenfalls gibt es keine Kopplung mit internationalen Datenbanken (wie etwa SIS oder Europol; das darf als Sieg der Geheimdienste über die Polizeien gelten).

Verdeckte Speicherung

Die beteiligten Behörden haben nach § 4 ATDG das Recht, Personen oder Angaben zu Organisationen verdeckt zu speichern. Dabei erfährt bei einem Suchtreffer nicht die suchende, sondern die speichernde Behörde von dem Treffer. Letztere kann dann entscheiden, ob sie die Daten im Nachhinein freigeben und an die anfragende Behörde übermitteln möchte.

Diese Möglichkeit sollte die Geheimdienste dazu bringen, ihre ach so vertraulichen Daten in die ATD zu bringen; sie hatten vor allem gegen die ATD argumentiert, viele ihrer Daten kämen von ausländischen Geheimdiensten, und die vertrauensvolle Zusammenarbeit mit diesen käme in Gefahr, wenn ihre "Erkenntnisse" zu Polizeien wandern würden.

In Wirklichkeit war es 2013 vor allem das BfV, das verdeckt speichert (28% ihrer Records), während der BND, der vielleicht wirklich umfangreich Daten von Dritten verarbeitet, nur 15% verdeckt speichert (Daten nach Bundestags-Drucksache 17/11130, S. 34). Es gab 2013 verdeckte Daten zu 13% der gespeicherten Personen, die bei 17% der Anfragen angeschlagen haben. Das macht in etwa 10000 verdeckte Hits pro Jahr oder etwas wie 30 pro Tag. Es kann nicht überraschen, dass die so speichernden Behörden die Anfragen (die sie im übrigen sehen) nicht mehr sehr sorgfältig prüfen. Viele der Matches treten ohnehin bei Suchen nach häufigen Nachnamen auf (Bundestags-Drucksache 17/11130, S. 47).

Zur Möglichkeit der verdeckten Speicherung tritt die beschränkte Speicherung, die Behörden erlaubt, selektiv Daten zurückzuhalten. Leut Bundestags-Drucksache 17/11130 macht allerdings kaum jemand von dieser Möglichkeit Gebrauch -- aber wer will das prüfen?

Zugriffsrechte

§ 5 ATDG regelt die Zugriffsrechte der teilnehmenden Behörden. Danach sind die erweiterten Grunddaten grundsätzlich nur mit Einverständnis der speichernden Behörde einzusehen, aber es gibt einen Ausnahmeparagraphen, so dass davon in Eilfällen abgesehen werden kann.

Die im 5-Jahre-Evaluationsbericht (Bundestags-Drucksache 17/11130) dargestellte Praxis sieht so aus, dass dieses Protokoll in fünf Jahren ATD überhaupt nur rund 1000 Mal genutzt wurde (S.46). Der von den öffentlichen Evaluatoren offen eigenstandene Grund dafür unterstreicht, wie sehr die ATD das Trennungsgebot unterläuft: Bei Treffern rief die suchende Behörde typischerweise gleich bei der speichernden an, was dann zu allfälligem Austausch ggf. über die in der ATD stehenden Daten hinaus führte.

Die Eilfallregelung, um die in der politischen Debatte im Vorfeld viel Wind gemacht worden war, ist bis 2013 nur ein einziges Mal angewandt worden (Bundestags-Drucksache 17/11130, S. 47).

Kontaktpersonen

Ein besonders bedenklicher Teil des ATDG sind die Ausführungen zu "Kontaktpersonen". Es ist völlig unklar, wer dabei alles erfasst werden kann. Ganz offenbar hat die Regierung hier dem Konglomerat von politischer Polizei und Diensten einen Freibrief gegeben, Daten z.B. von Asylberatungsstellen und ihren Mitarbeiter_innen zu speichern. Immerhin wurde gegenüber der ersten Entwurf des Gesetzes präzisiert, ein flüchtiger oder zufälliger Kontakt reiche nicht zur Speicherung ausreiche.

Angesichts solcher völlig beliebigen Regelungen erscheint es um so erschreckender, dass die Fünfjahreskommission in Bundestags-Drucksache 17/11130 berichtet, bei ihren Befragungen hätten nur 5% der Nutzer_innen geäußert, mehr oder weniger häufig Zweifel bezüglich der Speicherung von Personen zu haben (S. 35). Lediglich zu folgender windelweichen Einlassung ließ sich die Kommission hinreißen (S. 22):

Die Abgrenzung zwischen dolosen und undolosen Kontaktpersonen sei sehr problematisch. Eine kontrollierte Behörde habe ausdrücklich bestätigt, dass diese Abgrenzung oftmals nur sehr schwierig vorzunehmen sei.

Dazu hatte der BfDI schon 2011 ausgeführt (23. Tätigkeitsbericht (2011), 7.1.2, S. 83), dass die Bewertung, wann eine Kontaktperson als „dolos“ im Sinne des ATDG einzustufen sei, vom BfV sehr locker gesehen werde. „Dolos“ markiert dabei Personen, bei denen die Behörden "tatsächliche Anhaltspunkte" für die Kenntnis von der Planung oder Begehung einer terroristischen Straftat sehen. Das BfV meint, dass nachrichtendienstliches Erfahrungswissen ausreichen würde, um jemand als dolos einzustufen zu können. Dieses kritisiert der BfDI, da wegen der damit verbundenen erheblichen Grundrechtseingriffe konkrete Tatsachen für die Einstufung als dolos erforderlich seien müssten.

Beispiele für willkürliche Speicherungen von Kontaktpersonen – dolos oder nicht-- finden sich etwa im 28. TB LfD BaWü (2007). Hier wird insbesondere die Befürchtung bestätigt, die ATD werde mit Ergebnissen von zur Beobachtung ausgeschriebenen Personen (bei denen ja Begleitpersonen mit erfasst werden sollen) gefüttert.

Organisatorisches

Die eingespeicherten Daten bleiben quasi im Besitz der speichernden Behörde -- nur sie kann sie z.B. löschen oder berichtigen.

Während bei den üblichen Polizeidateien typischerweise nur jeder zehnte Zugriff geloggt wird (na ja, werden soll), wird bei der ATD jeder Zugriff protokolliert werden, und zwar mit Angabe zum Grund der Anfrage. Die protokollierten Abfragen sollen vom BfDI kontrolliert werden.

Für die ATD selbst sind keine Speicherfristen vorgesehen. Die Daten sollen gelöscht werden, wenn die Speicherfrist bei den einspeisenden Behörden abgelaufen ist. Wenigstens die 2013er Evaluation Bundestags-Drucksache 17/11130 behauptet, dass das auch funktioniert.

Inhalt

Gespeichert werden nach § 2 ATDG solche Personen, gegen die ein §129a oder §129b eingeleitet worden ist oder die Kontaktperson von Terrorverdächtigen sind. Zudem werden Daten gesammelt von Personen, die "rechtswidrig Gewalt als Mittel zur Durchsetzung international ausgerichteter politischer oder religöser Belange anwenden oder [...] unterstützen" oder in Verbindung mit ihnen stehen (!). Schließlich sollen auch Vereinigungen, Firmen, Internetseiten, Mailadressen usf. gespeichert werden, die in diesem Gebiet nützlich sein können.

Struktur der Datensätze

Zu einer Person soll nach § 3 ATDG folgendes gespeichert werden:

Grundaten

  • Namen (incl. Aliasnamen)
  • Geschlecht
  • Geburtsdatum
  • Geburtsort und Geburtsland
  • Staatsangehörigkeiten (auch ehemalige)
  • Anschriften (auch ehemalige)
  • besondere körperliche Merkmale
  • Sprachen
  • Dialekte
  • Lichtbilder
  • eine Bezeichnung der Fallgruppe nach § 2 ATDG
  • Passnummern o.ä.

Erweiterte Grunddaten

  • Telefonnummern, Mailadressen u.ä
  • Bankkontakte
  • genutzte Fahrzeuge (Angabe aus „PKW; LKW; Bus; Boot; Flugzeug; Motorrad; Bahn; Sonderfahrzeug; Fahrrad; Quad“)
  • Familienstand
  • "Volkszugehörigkeit"
  • Religionszugehörigkeit (amusanterweise ausgerechnet hier eingeschränkt auf "wo nötig")
  • "besondere Fertigkeiten" (z.B. chemische Kenntnisse usf.)
  • Schulabschluss
  • Angaben zu (auch weit zurückliegenden) Tätigkeiten, die eine Sicherheitsüberprüfung voraussetzen
  • "Angaben zur Gefährlichkeit"
  • Führerschein, Flugschein
  • besuchte Orte
  • Kontaktpersonen
  • konkrete Angaben zu Organisation(en), der/denen die Person angehören soll
  • Datum der letzten Zuspeicherung
  • Freitext, angeblich max. 2000 Zeichen ("auf tatsächlichen Anhaltspunkten beruhende zusammenfassende besondere Bemerkungen, ergänzende Hinweise und Bewertungen zu Grunddaten und erweiterten Grunddaten, die bereits in Dateien der beteiligten Behörden gespeichert sind, sofern dies im Einzelfall nach pflichtgemäßem Ermessen geboten und zur Aufklärung oder Bekämpfung des internationalen Terrorismus unerlässlich ist")
  • Bei Organisationen "Angaben zur Identifizierung"; dabei scheint alles erlaubt zu sein, hier dürfte es also weitere Freitextfelder geben.
  • Natürlich werden bei den Daten die Herkunft sowie Aktenzeichen weiterführender Informationen vermerkt.

Die relevanten Begriffe für "Volkszugehörigkeit", "Religionszugehörigkeit", "besondere Fähigkeiten", "Tätigkeit", "besuchte Orte" stehen jeweils in einer BKA-Verwaltungsvorschrift ("ATD-VwV"; Fassung von 2015). Dass bei "Volk" neben Belutsche und Dagestaner auch Flame und Este steht, ist dabei vielleicht etwas überraschend. Besondere Fähigkeiten sidn fürs BKA nicht nur Sprengstoff, sondern auch Physik und "Technik". Bei besuchten Orten gibts neben "Koranschule" auch "Verein" und "Hochschule".

Nach der Auflistung der Datentypen ist klar, dass es sich hier nicht um eine reine Indexdatei handelt. Tatsächlich geht dieser Datenbestand weit über das hinaus, was die üblichen Aktennachweise enthalten (dürfen). Zurück in die große Zeit deutscher Geheimpolizeien verweist natürlich auch das Feld zur "Volkszugehörigkeit".

Allerdings werden die erweiterten Grunddaten nicht sehr eifrig befüllt. Der Evaluationsbericht Bundestags-Drucksache 17/11130 berichtet, die "Volkszugehörigkeit" sei nur bei 4% der Einträge vorhanden, Schulabschluss gar nur bei 1% (S. 38).

Die besonders bedenklichen Freitexte gibt es danach bei lediglich 5% der Einträge. Die Erwartung, darin die haarsträubendsten Missbräuche zu finden, hat die Evaluationskommission lieber gar nicht geprüft – die Inhalte waren nicht Gegenstand der Prüfung (S. 39), die treuherzige Versicherung der Nutzer_innen reichte: "Dabei war den Gesprächspartnern im Rahmen der Evaluierung kein einziger Fall bekannt, bei dem in Freitextfeldern unzulässige Informationen gespeichert waren." (S. 20)

Im 23. Tätigkeitsbericht des BfDI (2011) (7.1.2, S. 83) wird auf eine weitere Schwierigkeit der Zusammenführung verschiedener Datenbestände hingewiesen, nämlich die Abbildung von Nutzungssperren:

Entgegen den im ATDG normierten gesetzlichen Voraussetzungen hat das BfV sämtliche Daten, die durch heimliche Telekommunikationsüberwachungen erhoben worden sind und daher besonders gekennzeichnet werden müssen, ungekennzeichnet in der ATD gespeichert. Folge: Die an deren ATD-Behörden haben diese Daten ungekennzeichnet weiter verwendet. Ohne die Kennzeichnung ist für Niemanden mehr erkennbar, dass es sich um gesetzlich besonders geschützte Daten handelt, die nur unter besonderen Voraussetzungen verarbeitet werden dürfen. Das System des BfV, das die Daten aus den Quelldateien in die ATD überträgt, sah keine derartige Kennzeichnung vor. Hiervon war eine Vielzahl von Daten betroffen.

Dies wird dann wohl auch erklären, warum die Evaluationskommission in Bundestags-Drucksache 17/11130 davon spricht, nur bei 150 Personen lägen "G-10-relevante" (also durch Abhören erhaltene) Informationen vor (S. 36). Der Regierungsbericht verschweigt die vorstehende Kritik des BfDI auch elegant, so dass anzunehmen ist, dass das whitewashing von Daten aus Tk-Abhören und Lauschangriffen in der ATD anhält.

Umfang

Gespeichert

BKA-Chef Zierke sprach bei der Eröffnung im März 2007 von 13000 Personen und 15000 Datensätzen in der ATD, zu 75% bezogen auf im Ausland lebende Personen oder sich befindliche Dinge. Zu diesem Zeitpunkt waren offenbar noch keine "erweiterten Grunddaten" gespeichert.

Bundestags-Drucksache 17/8260, Bundestags-Drucksache 16/10007 und Bundestags-Drucksache 17/11130 geben folgende Zahlen zu Personendatensätzen in der ATD:

8/2007

15605

28.5.2008

17745

8/2008

18122

8/2009

18675

1.12.2009

18714

8/2010

18639

1.12.2010

18413

8/2011

18414

4.1.2012

17892

Dabei haben die Behörden erhebliche Probleme mit dem Zusammenführen von Personendatensätzen aus verscheidenen Quellen und rechnen mit weitgehend gleichbleibend ca. 1000 Dubletten (Bundestags-Drucksache 17/11130 vermutet für 2011 920 Dubletten).

Zum (nicht sonderlich ausgeprägten) Bauch um 2009 herum führt der 5-Jahres-Evaluationsbericht Bundestags-Drucksache 17/11130 entwaffnend aus (S. 30), wie werde als

Erkenntnisspitze aufgrund einer Gefährdungslage interpretiert, die sich aufgrund vermehrter Terrorwarnungen im Vorfeld der Bundestagswahlen 2009 ergab [...] Gefährdungsspitzen steigern die Ermittlungsaktivitäten."

Was die Evaluatoren des Innenministeriums hier in Wirklichkeit sagen: Wie viel gespeichert wird, hängt von der Beurteilung bzw. Paranoia der Behörden und nicht von irgendwas ab, das mit gutem Willen noch als Tatsache durchgehen könnte. Erstaunlich ist allenfalls, dass der Bauch bei einem von vorneherein auf Willkür normierten Konstrukt nicht ausgeprägter ausfällt.

Laut Bundestags-Drucksache 17/11130 hatten 2011 44% der Speicherungen erweiterte Grunddaten.

Die 2013-Evaluation (Bundestags-Drucksache 17/11130) gibt die Verteilung auf die Fallgruppen bei den Personen über die Zeit. Dabei sahen die Zahlen so aus:

Fallgruppe

2007

2011

Mitglieder/Unterstützer

33%

38%

Unterstützer von Unterstützern

6%

7%

Gewalttäter

27%

37%

Kontaktpersonen

34%

19%

Die Anteile gehen dabei auf Grundzahlen von rund 15000 im Jahr 2007 und rund 18500 im Jahr 2011. Bemerkenswert also daran ist zunächst, dass die Behörden sich allen Ernstes 6000 Terrorist_innen zusammenfantasieren, die für die BRD brandgefährlich genug sind, um das Aushebeln von haufenweise Grundrechten und Staatsprinzipien zu rechtfertigen. Was machen all die langbärtigen Bombenleger nur das ganze Jahr lang?

Dann fällt auf, dass nicht nur nach Zahlen, sondern auch nach Anteil der "harte Kern" (Mitglieder und Gewalttäter) in vier Jahren deutlich zugenommen hat. Als Erklärung bietet der Evaluationsbericht an: "Andererseits werden in der Einzelfallhistorie regelmäßig weitere Informationen über die betreffenden Personen gewonnen." Im Klartext: Wer in den Fleischwolf kommt wird bald Hackfleisch. Gerade angesichts de facto nicht stattfindender tatsächlicher als Terror qualifizierbarer Aktionen hätten doch eigentlich auch die Evaluator_innen stutzig werden müssen bei Tausenden von "Radikalisierungsgeschichten", die die Behörden da auch ihren Rechnern lutschen wollen.

Herkunft

Nach Bundestags-Drucksache 17/11130 (S. 30) wurden und werden die meisten Personen vom BND gespeichert (8000-10000). Über die Zeit (2007-2011) hinweg nahm die Zahl der von BKA (2000-4000) und BfV (500-3000) beigetragenen Personen teilweise deutlich zu. Die anderen Quellen sind demgegenüber eher vernachlässigbar.

Dennoch rügt der LfD BaWü in seinem 28. TB (2007) übertriebenen Speichereifer seines LKA:

Bei einem als "Hauptperson" eingespeicherten Betroffenen war beispielsweise einem in den Akten befindlichen Strafurteil zu entnehmen, dass er selbst nach Meinung des polizeilichen Sachbearbeiters "keineswegs in irgendwelchen islamistischen Hintergrund verstrickt" war; das Gericht schloss sich dieser Auffassung an.

Ebenda merkt er an, dass das BKA hauptsächlich Daten aus der INPOL-Teildatenbank Innere Sicherheit in die ATD eingespeist hätte.

Abfragen

Laut Bundestags-Drucksache 17/11130 (S. 42) gab es in den Jahren um 2011 herum rund 70000 Abfragen pro Jahr, davon ca. 55% von LKAs, 30% vom BKA und 10% von den LfV. Mithin ergibt sich ein klarer Informationsstrom von den Geheimdiensten zu den Polizeien (kein Wunder, dass letztere versucht hatten, die ATD zu stoppen).

Kosten

Kosten laut Bundestagsbeschluss: Rund 15 Millionen Euro einmalig, rund 6 Millionen Euro pro Jahr. Der Heise-Newsticker berichtet, das BKA habe 72 "Datenbankspezialisten" für die ATD eingestellt. Genaueres zu den angefallenen Kosten steht in einem Ct-Artikel.

Wie viel Geld am Ende wirklich geflossen ist, ist unbekannt.

Technik

Die ATD basiert technisch auf der BKA-Fallbearbeitung INPOL-Fall von 2008, ist also eine Oracle-Anwendung, auf HP-UX-Hardware. Bundestags-Drucksache 17/11130 berichtet noch von einem "Stahlpanzerrohr", das zwei innerhalb des BKA getrennt aufgestellte Maschinen mit ATD-Daten verbindet. Ganz klar ist nicht, warum die ihre Failover-Maschinen mit so einem Extragag zusammenkleben, aber "Stahlpanzerrohr" ist bestimmt ein Wort, das den BKA-Leuten gefällt. Nach außen hin findet die Kommunikation über die üblichen SINA-Thin Clients statt, also Maschinen ohne viel Hardware, auf denen im Wesentlichen ein Web-Browser läuft.

Über die Popularität der altbackenen BKA-Software in den ohnehin grummelnden Geheimdienstkreisen steht aaO (S. 25):

Die genauere Analyse der Antworten [...] zeigt auf, dass diejenigen, die mit der Bedienoberfläche zufrieden sind, vor allem aus dem Bereich der Polizei kommen (welche die auf INPOL-Fall basierende Bedienoberfläche aus anderen Anwendungen kennen) und die (eher) Unzufriedenen aus dem Bereich der Nachrichtendienste, für die die verwendete Software zunächst unbekannt war und in der täglichen Praxis außerhalb der ATD-Nutzung keine weitere Rolle spielt.

Geschichte der Anti-Terrordatei

Die Verfechter eines autoritären Staates hatten, als sie 2001 Morgenluft witterten, wohl nicht damit gerechnet, wie schwer sie sich untereinander würden einigen können. Bereits der vorparlamentarische Prozess war außerordentlich kompliziert, da auch innerhalb der neoliberalen Law-And-Order-Fraktion erheblich Interessensgegensätze bestehen und etwa in der Frage der Einspeisung von Geheimdienstdaten plötzlich Bürgerrechtler_innen und Geheimdienste gemeinsame Interessen hatten (denn die Dienste fürchteten um ihre Top-Secret-Daten, die eben nicht jedem Straßenpolizisten zugänglich sein sollten).

So dauerte es ganz fünf Jahre, um zum Gemeinsame-Dateien-Gesetzes (GDG) zu kommen, das neben dem ATDG etliche weitere einschneidende Änderungen an anderen Gesetzen vornimmt, um in Zukunft Dateien nach dem Vorbild der ATD ohne weitere öffentliche Beteiligung einrichten zu können. Es kam nach vielen Interventionen von Innenministern (und auch des Bundesrats, z.B. ist Drucksache 672/1/06 recht aufschlussreich) zustande. Die verabschiedete Fassung findet sich in Bundestags-Drucksache 16/2950.

Das Gesetz wurde im Dezember 2006 verabschiedet, die Datei am 30.3.2007 freigeschaltet. Seit 2007 ist eine Klage gegen die ATD vor dem Bundesverfassungsgericht anhängig; eine mündliche Verhandlung fand im August 2012 statt, eine Entscheidung ist wohl noch nicht ergangen.

2013 erschien ein Evaluationsbericht der Bundesregierung (Bundestags-Drucksache 17/11130), der wie ähnliche Evaluationsberichte etwa zu den Schily'schen Terrorgesetzen im Wesentlichen die Interessen der Exekutive wiedergibt. Danach dürfte eine Auflösung der (eigentlich als befristete Verletzung der Grundrechte zur Abwehr einer unmittelbaren Gefahr angelegten) ATD in weiter Ferne liegen.

Trennungsgebot

Das Besondere an der ATD ist die Nonchalance, mit der die Regierung zugibt, hier das Trennungsgebot zwischen Polizei und Geheimdiensten aufzuheben. So heißt es im durch das GDG eingeführten neuen §22a Verfassungsschutzgesetz:

Das Bundesamt für Verfassungsschutz kann für die Dauer einer befristeten projektbezogenen Zusammenarbeit mit den Landesbehörden für Verfassungsschutz, dem Militärischen Abschirmdienst, dem Bundesnachrichtendienst, den Polizeibehörden des Bundes und der Länder und dem Zollkriminalamt eine gemeinsame Datei errichten.

In der Tat ist das als Frontalangriff auf das seinerzeit von den Alliierten als Bollwerk gegen eine neue Gestapo verordnete Trennungsgebot, von dem die deutschen Regierungen längst nichts mehr wissen sollen; das geht auch aus dem Bericht der Regierungskommission hervor, die keck formuliert (S. 52):

Ob es ein verfassungsrechtliches Gebot der Trennung von Polizei und Nachrichtendiensten gibt und was darunter ggf. zu verstehen ist, ist streitig.

In diesem Zusammenhang besonders dramatisch ist, dass das ATD nicht vorschreibt, rechtswidrig (etwa durch Folter) gewonnene "Erkenntnisse" der Geheimdienste seien nicht speicherungsfähig; damit sind sie, jedenfalls im Prinzip, sogar speicherungspflichtig. Dies mag nach den Aktivitäten des BKA selbst (z.B. Khalid_El-Masri) nur mehr eine akademische Frage sein, aber dennoch kann die ATD wenigstens die Kontaktaufnahme zwischen geheimdienstlichen Folterern und den Datennutzern bei der Polizei entscheidend erleichtern.

Dabei dürfte der entscheidendste Bürgerrechtsabbau nicht direkt aus den Speicherungen und Abrufen selbst entstehen. Das noch größere Drama ist ein "Unterfilzen" des Trennungsgebots, wie der Regierungsbericht Bundestags-Drucksache 17/11130 treuherzig erläutert (S. 48):

In den Fokusgruppen wurde sowohl von Polizeien als auch Nachrichtendiensten bestätigt, dass es zu länder- und behördenübergreifender Bildung von beruflichen Netzwerken aufgrund persönlicher Kontakte kam.

Datenschutz und Kontrolle

Im 28. TB des LfD BaWÜ (2007) wird zu Schwierigkeiten bei der Kontrolle ausgeführt:

das Landeskriminalamt wies uns in seiner Stellungnahme zu unserem Kontrollbericht darauf hin, dass die in der Antiterrordatei gespeicherten Daten "in ihrer Gesamtheit" als geheim zu haltend Verschlusssache (VS-geheim) eingestuft seien; dies beziehe sich nach bundesweiter Absprache auch auf statistische Daten wie die Anzahl eingespeicherter Personendaten oder auch auf die Aufschlüsselung von gespeicherten Personen nach den im Antiterrordateigesetz (§ 2) genannten Fallgruppen.

Der LfD durfte aber immerhin sagen, er habe keine skandalösen Zustände in den Stuttgarter ATD-Liaisonen vorgefunden, es sei aber "unter Zeitdruck" vor allem von der Polizei sehr großzügig eingespeichert worden.

Auskunftsrecht

Das Auskunftrecht richtet sich nach § 10 ATDG Absatz 2:

(2) Über die nicht verdeckt gespeicherten Daten erteilt das Bundeskriminalamt die Auskunft nach § 19 des Bundesdatenschutzgesetzes im Einvernehmen mit der Behörde, die die datenschutzrechtliche Verantwortung nach § 8 Abs. 1 Satz 1 trägt und die Zulässigkeit der Auskunftserteilung nach den für sie geltenden Rechtsvorschriften prüft. Die Auskunft zu verdeckt gespeicherten Daten richtet sich nach den für die Behörde, die die Daten eingegeben hat, geltenden Rechtsvorschriften.

D.h. um Auskunft über eventuelle Verdeckte Speicherungen herauszubekommen, müssen alle 40 Behörden angeschrieben werden. Grundsätzlich dürfte es angesichts der Generaleinstufung der Daten als Verschlusssache mit bis zu VS-geheim schwierig werden, irgendwas aus den Behörden rauszubekommen.

Dazu führt der 30. Tätigkeitsbericht des ULD SH aus:

Für die Antiterrordatei ist in der Praxis ein mangelhaftes Auskunftsverfahren zu den verdeckt gespeicherten Daten geplant. [...] Schon die Regelung des Antiterrordateigesetzes ist insofern eine Zumutung: „Die Auskunft zu verdeckt gespeicherten Daten richtet sich nach den für die Behörde, die die Daten eingegeben hat, geltenden Rechtsvorschriften“. Die Betroffenen sollen einen Hinweis auf diese Regelung und eine Adressenliste der beteiligten Stellen erhalten, um dort jeweils die Auskunft einzeln zu beantragen. Die Bürgerinnen und Bürger haben unter Umständen keine leise Ahnung, welche der zur Zeit mehr als 40 beteiligten Stellen Daten über sie gespeichert haben. Sie sind so gezwungen, mehr als 40 Anträge zu stellen. Im Zweifel sind ebenso viele Widerspruchs- und Klageverfahren „ins Blaue hinein“ nötig, ohne die Erfolgsaussichten ansatzweise vorher abschätzen zu können. Dieses Auskunftsverfahren ist weder mit den Grundrechten noch mit der Rechtsweggarantie des Grundgesetzes zu vereinbaren.

Folgen

Zum Nutzen der ATD weiß der Fünfjahresbericht der Regierung Bundestags-Drucksache 17/11130 im Wesentlichen nichts zu sagen:

Die Erfolge der personenbezogenen Maßnahmen werden erst in der Gesamtschau aller Maßnahmen deutlich. Konkrete Beispiele für ausschließlich aus der Arbeit mit der ATD resultierende Gefahrenabwehr- oder Exekutivmaßnahmen sind daher als Ergebnis dieser Evaluation nicht benennbar.

(Bundestags-Drucksache 17/11130, S. 49) Anders gesagt: Wir haben Bürgerrechte abgebaut und haben keinen Hinweis, dass wir dadurch Terrroristen fangen oder gar Verbrechen verhindern konnten

Dafür gab es offenbar einige Nebenwirkungen zusätzlich zur vermutlich erwünschten Unterfilzung des #Trennungsgebots. So berichtet die Regierung aaO (S. 24):

[Anlass eines Auskunftsersuchens war] die Festnahme des Petenten in Afghanistan, nachdem die dortige Anschrift seines Vaters an eine deutsche Behörde mitgeteilt worden war. In diesem Vorgang besteht eine Speicherung im offenen Bestand eines LKA sowie eines LfV. Die Person wurde als Gefährder gespeichert. Die Antworten der datenspeichernden Behörden, ob eine Auskunftserteilung erfolgen darf, standen zum Zeitpunkt der Informationserhebung für die Evaluierung allerdings noch aus.

Der Bericht, wie jemand nicht an einer Besichtigung des Hamburger Hafens teilnehmen durfte und dann verzweifelt versuchte, herauszufinden, warum. Im "Anti-Terror"-Staat konnte er immerhin rauskriegen: In dem Fall nicht an der ATD. Oder jedenfalls nicht an deren nicht verdeckten Teil.