Revision 6 vom 2016-05-23 20:36:40

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Die Strafprozessordnung erwähnt an vielen Stellen "Akten"; der Gesetzgeber hat dabei an Konvolute von Papier und vielleicht noch Tonbänder gedacht, die all die Beweismittel sammeln, mit denen die Polizei ihren Fall machen möchte. Wir sprechen dabei hier von

  • "Kriminalakte", sofern diese Sammlungen direkt auf Personen bezogen sind, ohne dass die Polizei einen Fall hätte,
  • "Ermittlungsakte", sofern die Polizei einen Fall gemacht hat, und
  • "Prozessakte", sofern ein Gerichtsverfahren eingeleitet wurde.

Die Dokumententypen gehen normalerweise auseinander hervor. Rechtlich werden sie nur in Ausnahmefällen unterschiedlich behandelt. Da aus Bürgerrechtssicht die Kiminalakte am wehsten tut -- die Polizei legt sie nach Gutdünken an über wen sie will, und sie ist im Vergleich zu Prozessakten praktisch Eigentum des "tiefen Staats" -- reden wir hier vor allem über sie (als "eKA").

Diese Dokumente unterliegen nicht dem Auskunftsrecht des Datenschutzes, solange sie analog geführt werden; die Strafprozessordnung regelt demgegenüber ein (ziemlich windelweiches) Einsichtsrecht in Prozessakten für Anwält_innen (und §147 (7) potenziell auch für das Opfer), das allerdings erst greift, wenn das Material bei Gericht gelandet ist. Weitere Einsichtsmöglichkeiten existieren, sind aber in jedem Fall sehr aufwändig und bedürfen fast immer anwaltlichen Beistands.

Da nun die Beweismittel von Anzeigen über Fotos, Abhörprotokolle und Verhörmitschnitte bis hin zu Verbindungsdaten inzwischen fast alle digital vorliegen und bereits in Vorgangsverwaltungen und Fallbearbeitungen liegen, liegt es natürlich nicht fern, die komplette Kriminalakte digital zu führen; sie wird dann sozusagen ein Archivierungs- und Organisationsaufsatz auf VVen und FBSen.

Systeme

Gerne eingesetzt generell zur Führung von elektronischen Akten in der öffenlichen Verwaltung wird die eGov-Suite der österreichischen Firma Fabasoft, die zumindest in Bayern auch bei der Polizei läuft.

Ein PR-Artikel von 2011 berichtet darüber. Die Einphasung und die Migration der Dokumente sei im Rahmen eines Projekts "Elektronisches Kriminalaktenarchiv“ (EKAA) ab Juni 2005 erfolgt. Ein Prototyp 2006 hatte dann schon eine "Anbindung" an die bayrische Vorgangsverwaltung IGVP sowie an die Scan-Standardsoftware Kofax Capture. Das System soll seit November 2008 aktiv sein und die Daten aus der alten Dokumentenverwaltung ("DokV") komplett enthalten. 2011 sollen 80000 von insgesamt 420000 bestehenden Kriminalakten in das System übernommen worden sein. Die Planung damals war, das System allen 30000 bayrischen Polizist_innen zur Verfügung zu stellen; über Zugriffskontrolle oder Recherchemöglichkeiten redet das PR-Stück nicht.

Politisch interessant ist die Einführung der elektronischen Kriminalakte in Niedersachsen. Dort hatte um 2006 herum Fabasoft wie in Bayern einen Coup gelandet (PR-Stück von 2007) und hätte für "alle geeigneten Dienststellen des Landes" (also weit über die Polizei hinaus) das Dokumentenmanagement übernehmen sollen. Die gegenüber Bayern nötigen Anpassungen ("Bildung von Geschäftszeichen sowie [...] Arbeitsschritte im Workflowprozess") lassen ahnen, welche Probleme solche Systeme lösen sollen.

Die McAllister-Regierung wollte dann nach einem PR-Stück von 2012 Fabasoft nach einer fünfjährigen Pilotphase rauskegeln und das Dokumentenmanagement einem Hack auf der Basis von Microsoft Sharepoint (Share.Docs von PDV-Systeme aus Erfurt) machen. So oder so hat die Microsoft-Lobby offenbar in der folgenden Regierung Weil wieder an Boden verloren, denn 2013 verlängert diese die Zusammenarbeit mit Fabasoft. Ausgerechnet das Justizministerium hängt jedoch weiter an Sharepoint; wenn dieser Beschluss auch für die Staatsanwaltschaften gelten sollte, ist das für die Polizei bestimmt unterhaltsam.

2011 baute die Bundespolizei ein eKA-System auf; mehr unter Datenbanken der Bundespolizei#Elektronische_Kriminalakte. Im Bezug auf diese Arbeiten benennt der BfDI in seinem 23. TB (2011) (S. 90f) ein Grundproblem der eKAen überall: Es werden nämlich bereits Nachweis- und Analysesystem betrieben, "deren Aufgaben und Zwecke sich zum Teil mit denen der eKA überschneiden. Dies kann zu Mehrfachspeicherungen personenbezogener Daten führen." Der BfDI regt an, diese anderen Datenbestände zu löschen. Andererseits hat er auch keinen Vorschlag, "wie Missbrauch vermieden werden kann, wenn nun sehr viel mehr Bundespolizisten mit einem Mausklick und einigen zusätzlichen Angaben Zugriff auf fast alle in der elektronischen Kriminalakte enthaltenen Daten erhalten."

In Schleswig-Holstein wurde die elektronische Akte 2007 eingeführt. Einigen Aufschluss über da, was dabei passiert gibt der Einstellungsbeschluss des Landesarbeitsgerichts Schleswig-Holstein vom 21.2.2012, 6 Sa 573/10. Dort wird ausführlich aus der eKA-Richtlinie für Schleswig-Holstein zitiert; als Zwecke werden genannt:

  • Erkenntnisse für die Bewertung und Abwehr von Gefahren bereitzuhalten,
  • Ermittlungen zur Aufklärung von Sachverhalten, insbesondere von Straftaten und die Feststellung von Verdächtigen zu unterstützen.
  • Informationen für die Gefahrerforschung zur Verfügung zu stellen,
  • Informationen zu Personen-, Tat- und Ereigniszusammenhängen bereitzuhalten,
  • Ermittlungsansätze für die Festnahme oder Ingewahrsamnahme gesuchter Personen zu liefern,
  • Hinweise für das taktische Vorgehen und Eigensicherung der Polizei vorzuhalten,
  • Personenidentifizierungen zu unterstützen,
  • Erkenntnisse bereit zu halten, die zur Fertigung einer negativen Sozialprognose herangezogen werden können (z. B. zur Durchführung eines DNA-Verfahrens).

Gespeichert werden demnach weiter auch "Betroffene von Maßnahmen der Gefahrenabwehr"; als Prüffristen werden die üblichen 5/10 Jahre angeboten. Leider ist zum konkreten Inhalt der eKA nichts zu erkennen.

Die BfDI berichtet in ihrem 25. TB (2015) (S. 89), das BKA führe 1 Million seiner Kriminalakten elektronisch (von insgesamt 3.6 Mio).

Juristisches

Das VG Aachen hat im Urteil 6 K 1979/08 vom 15.6.2009 viel über "suchbare Speicherung" von "Kriminalakten" geschrieben. Dem Kontext nach bleibt zweifelhaft, ob damit in der Tat eine wirklich eKA gemeint war oder nicht vielmehr auf "tote" Dokumente verweisende Einträge im NRW-Nachweissystem.