Inhaltsverzeichnis
- Rechtsgrundlagen
- Auskunftssysteme der Polizei (POLAS)
- Vorgangsbearbeitung NIVADIS
- Fallbearbeitung/Analysesystem
- Elektronische Kriminalakte
- Verfassungsschutz
- Weiteres
-
Skandale
- Detektei nutzt POLAS
- Göttinger Überwachungsskandal
- Polizeigesetz wird vom Verfassungsgericht kassiert
- Rechtswidrige Dauerobservation einer Kletteraktivistin
- Staatsanwaltschaft in Göttingen ordnet DNA-Entnahme wegen Böllerwurf an
- Big Brother Award für Drohnen-Einsatz
- Beobachtung eines Journalisten durch den Verfassungsschutz
- Beobachtung eines Grünen-Landtagskandidaten
- 40% der VS-Daten rechtswidrig gespeichert
- 511 von 512 gespeicherten Veranstaltungen rechtswidrig
- Automatische Schwärzungen bei VS-Auskünften
- Menschenrechte ausüben ist „Treiben“
Rechtsgrundlagen
Zum 7.7.2021 hat der Verfassungsschutz von der SPD-CDU-Regierung und dem Parlament das Recht geschenkt bekommen, die Auskunft global zu verweigern (in der üblichen Formulierung, es müsse auf einen konkreten Sachverhalt und ein besonderes Interesse verwiesen werden). Nun, ein Menschenrecht weniger. Schade, dass niemand den autoritären Reflexen nach dem Skandal um VS-Präsidentin Brandenburger (vgl. unten) widerstehen konnte.
Auskunftssysteme der Polizei (POLAS)
Niedersachsen betreibt als Nachweissystem eine POLAS-Instanz.
Nach einer Pressemitteilung von Intel aus dem Jahr 2003 gab es damals 11600 Computer-Plätze in Niedersachsen, die eine nicht näher beschriebene Polizeidatenbank – nach Lage der Dinge muss es sich wohl um POLAS gehandelt haben – abfragen können.
Sexualstraftäterdatei
Niedersachsen betreibt offenbar auch eine HEADS-Instanz, wie Bayern als Sexualstraftäterdatei. Dieses ist als K.U.R.S in Nivadis intregriert (vgl #Themenbezogene Sammlungen in Nivadis.
SKB-Datei
Auch Niedersachsen unterhält eine SKB-Datenbank gegen Fußballfans. 2016 zitiert heise online „Polizeiangaben” dahingehen, dass bei den Präsidien in Hannover (750), Braunschweig (250) und Wolfsburg (200) insgesamt 1200 Personen erfasst sind.
Im November 2016 urteilt das OVG Lüneburg (11 LC 148/15), die SKB-Dateien würden im Einklang mit Datenschutz- und Polizeigesetzen geführt. Das ist ein wenig originell, weil die Polizei die Dinger seit 2005 mit einer völlig unzureichenden Errichtungsanordnung (hier: „Verfahrensbeschreibung”) hat und erst, als es im Zusammenhang mit der Klage brenzlig wurde, 2014 eine Errichtungsanordnung geliefert hat, die etwas mit der Realität zu tun hatte; wie üblich haben Rechtsverstöße der Polizei also keine Folgen.
Atemberaubend auch die Bereitschaft des Gerichts, die Speicherung von „Kontakt- oder Begleitperson[en]” – also auch nach Polizeieinschätzung völlig unschuldigen – zu erlauben, und zwar durch schlichtes Abpinnen einer kreuzlahmen Ausrede der Polizei:
Nach den Angaben der Beklagten [also der Polizei] tragen die in der Arbeitsdatei gespeicherten Erkenntnisse [hier speziell zu Kontakt- und Begleitpersonen] auch dazu bei, für präventiv-polizeiliche Maßnahmen den Kräftebedarf abzuschätzen und die Einsatztaktik festzulegen. Die Arbeitsdatei dient damit der gefahrenabwehrenden Tätigkeit der Polizei.
– beeindruckend dünn angesichts einer Verletzung elementarer Bürgerrechte.
Angesichts dieser bürgerrechtlichen Unbesorgtheit ist auch bemerkenswert, dass das Gericht die Weiterspeicherung zweier Gewahrsamnahmen absegnet, da sich die Klägerin nicht im Nachhinein gegen sie gewehrt hat:
Ob der Eintrag zu löschen ist, wenn die Rechtswidrigkeit der von der Polizei ergriffenen Maßnahmen feststeht, kann auf sich beruhen. Die Klägerin hat nachträglichen gerichtlichen Rechtsschutz gegen die Ingewahrsamnahmen offenkundig nicht in Anspruch genommen.
Das Gericht wollte nicht mal die Speicherung einer „Gefährderansprache” (die in Wirklichkeit offenbar eher eine Personalienkontrolle war) als rechtswidrig erkennen.
Vorgangsbearbeitung NIVADIS
Nivadis ist das Niedersächsische Vorgangsbearbeitungs-, Analyse-, Dokumentations- und Informationssystem (vgl. Heise-Newsticker 2004 zu Nivadis). Es wurde von Steria Mummert Consulting implementiert (vgl pro-linux.de von 2003).
Historie
2014 gab es sehr konkrete Pläne, Nivadis im Rahmen einer Rückmigration auf Windows abzuschalten (Heise-Newsticker vom 1.11.2014). Wir tippen mal: Die werden zu was von rola migrieren. Auskünfte von 2019 zufolge verwenden sie aber weiter NIVADIS als Vorgangsbearbeitung.
2010 beschreibt das Innenministerium Niedersachsen folgende tolle Features in ihrer Vorgangsbearbeitung (vgl IM zu NIVADIS):
Durch die hervorragende Datenqualität können einmal eingegebene Daten (unter Berücksichtigung strenger datenschutzrechtlichen Vorgaben) für sämtliche folgenden Bearbeitungsprozesse sowie die Auswertung und Statistik automatisiert verarbeitet werden. Sie können per Mausklick für weitere Vorgänge übernommen und mit externen Datenquellen abgeglichen werden. [...] Alle Vorgangsdaten werden zentral gespeichert. Dies hat zur Folge, dass jeder Anwender, soweit es seine Berechtigung zulässt, landesweit auf alle Vorgangsdaten zugreifen kann. [...] Von jedem NIVADIS-Arbeitsplatz aus wird der Zugriff auf polizeiliche Informationssysteme, wie INPOL, Schengener-Informations-System, Ausländer-Zentralregister und ZEVIS (Zentrales Verkehrs- und Informations-System) gewährleistet.
Weil ein Ausfall beim Landesbetrieb für Statistik und Kommunikationstechnologie 2010 zu einem zweitägigen Ausfall von Nivadis führte, dürfte die zentrale Komponente eben dort angesiedelt sein. vgl Heise-Newsticker
Datenbankfelder
Es werden unter anderem folgende Informationen zu einzelnen NIVADIS-Vorgängen gespeichert:
- Vorgangsnummer
- Polizeidirektion
- Dienststelle
- Delikt
- Kurzsachverhalt
- Tatort-PLZ
- Tatort
- PMK-Meldung
- Rolle (zB Beschuldigter, Verursacher, betroffene Person)
- Geschehenszeitraum ab
- Endabgabedatum
- Datenschutzstatus (archiviert, aktiv)
- Anonymisierungsdatum
- Löschfrist in Jahren
- Löschdatum Datensatz
- Name, Vorname
- Geburtsdatum, Geburtsort
- Adresse
Zugriffe und Löschung von Daten
Auf aktive Vorgänge darf jede*r Polizist zugreifen.
Bei Strafsachen wird ein Vorgang irgendwann mit Abgabe an die Staatsanwaltschaft endabgegeben. Das setzt dann das Endabgabedatum entsprechend. Die Archivierung (Datenschutzstatus) erfolgt dann nach Mitteilung der Staatsanwaltschaft über den Ausgang des Verfahrens, spätestens jedoch zwei Jahre nach der Endabgabe. Bei anderen Vorgängen erfolgt die Archivierung drei Tage nach der Endabgabe.
Erst sobald ein Vorgang archiviert wird, wird die Löschfrist gesetzt und zwar auf dann in der entsprechenden Anzahl Jahren. Das scheinen üblicherweise 10 Jahre bei Straftaten zu sein und 5 Jahre bei anderen Vorgängen.
Die Polizeidirektion Osnabrück schreibt zu archivierten Vorgängen und Zugriffsrechten:
- Zu den archivierten Vorgängen ist ein Zugang rechtlich beschränkt. Er ist zulässig zu Zwecken der auch nachträglichen Dokumentation behördlichen Handelns, der Vorgangsverwaltung und dem Vorgangsnachweis. Ein darüberhinausgehender, zweckdurchbrechender Zugang ist unter den Voraussetzungen des § 39 Abs 2 Niedersächsiches Polizei- und Ordnungsbehördengesetz zulässig, u.a. zur Abwehr einer Gefahr für Leib und Leben oder zur Verfolgung von wenigstens gleichwertigen Straftaten, jeweils unter der Voraussetzung der vorherigen schriftlichen Genehmigung durch eine Vorgesetzte oder einen Vorgesetzten.
Es gibt auch ein Anonymisierungsdatum, praktisch hat das jedoch eher keine Relevanz, da lediglich anonymisiert wird, welche Rolle die Person im Vorgang hatte, aber nicht die Beziehung der Person zum Vorgang. Das heißt wohl eher, dass die Polizei dann immer davon ausgeht, die Person wäre Beschuldigte gewesen. Die Polizeidirektion Osnabrück dazu:
- Nach Ablauf des Anonymisierungsdatums wird bei einem Treffer zu einer Personensuche lediglich der Kurzsachverhalt des Vorgangs angezeigt. Daraus kann die oder der Suchende schließen, dass die abgefragten Personendaten in irgendeinem Zusammenhang mit dem Vorgang stehen. Zugriff auf die Daten hat jede oder jeder Angehörige der Polizei mit Zugang zu NIVADIS.
Themenbezogene Sammlungen in Nivadis
Laut einer Antwort der Landesregierung auf eine Anfrage der Linken von 2011 sind in Nivadis Themenbezogene Sammlungen (TBS) in Nivadis integriert. Die TBS dienen als ermittlungsbegleitende Anwendungen, für spezielle Analysen bzw. Auswertungen zu unterschiedlichen, polizeilich relevanten Phänomenbereichen. U.a. gibt es TBS K.U.R.S. „Konzeption zum Umgang mit rückfallgefährdeten Straftätern“, TBS Wasserschutzpolizei Seeschiffkontrollen, TBS Fahrradbesitzerdatei Niedersachsen, und TBS Milieu Menschenhandel/Rotlichtmilieu.
Fallbearbeitung/Analysesystem
SAFIR
„Software zur Analyse, Fallbearbeitung, Informationsverarbeitung und Recherche“ (Safir) heißt nach einer Antwort der Landesregierung auf eine Anfrage der Linken von 2011 das System zur operativen Fallbearbeitung.
Wie üblich in Fallbearbeitungen gibt es offenbar langlebige, tief eingreifende Datensammlungen. Die Anfrage von 2011 erwähnt Safir-Castor, eine Landesanwendung zur anlassbezogenen Abwicklung des Castortransportes.
Auskünfte von 2019 erwähnen eine ähnliche Datensammlung namens „PD Hannover-PMK-Links“, also eine Datei des Staatsschutzes Hannover, in der zehn Jahre alte Vorgänge erfasst waren. Dementsprechend langlebig wird die Sammlung wohl auch sein, was angesichts der recht feingranularen Informationen (wie andernorts auch) sehr fragwürdig ist.
DAMASKUS
Damaskus ist nach einer Antwort der Landesregierung auf eine Anfrage der Linken von 2011 „Datei zur Massenauswertung von Kraftfahrzeugkennzeichen und sonstigen Daten“.
ISAS
Castortransporte - ISAS - jetzt Landesanwendung „Castortransporte - ISA (Informations-, Sammel- und Auswertestelle) laut einer Antwort der Landesregierung auf eine Anfrage der Linken von 2011
Elektronische Kriminalakte
Auch Niedersachsen betreibt ein System zur elektronischen Führung der Kriminalakte namens ELKA. Die Polizei (LKA) erteilt die Auskunft, dass die ELKA existiert (und speichert den Hinweis im Kriminalaktenindex KAI) und grob, welche Inhalte enthalten sind. Eine Einsichtnahme verweigert sie jedoch.
Verfassungsschutz
Der Verfassungsschutz betreibt neben NADIS laut einer Antwort der Landesregierung auf eine Anfrage der Linken von 2011 eine Amtsdatei und eine G10-Datei (d.h. vermutlich Personen welche auf Grund des G10-Gesetzes überwacht werden). Daneben gibt nach der Antwort in Niedersachsen ein „Gemeinsames Informations- und Analysezentrum Polizei und Verfassungsschutz“ (GIAZ).
Seit 2021 besteht auch beim Niedersächsischen VS (wie zuvor schon in Bund, BaWü, Bayern und einer wachsenden Zahl von Ländern) kein Auskunftsrecht mehr (vgl. unten).
VS-Amtsdatei
Hauptquelle zur Amtsdatei des Landesamts für Verssungsschutz ist ein Bericht der Task Force Verfassungsschutz (2014) (im Folgenden TF-Bericht).
Inhalte
Demnach führt der LfV zunächst – wie wohl alle LfVen in der BRD – ausschließlich „Sachakten”, also vielleicht „Der Göttinger AK Castor” oder „Antifa-Umtriebe in Lemgo”, nicht aber das Äquivalent von Kriminalakten (die normalerweise konkreten Personen zugeordnet sind). Die Amtsdatei kreuzreferenziert nun Erwähnungen von Personen in diesen Akten. Es kann natürlich passieren, dass es mal ein-Mensch-Gruppen gibt.
Dabei werden Personen nach „Verdachtsfällen” und „Beobachtungsfällen” unterschieden, wobei letztere VS-offiziell bestätigte „Extremisten” sind. Offenbar gibt es für letztere noch die Unterscheidung nach „gewalttätig” und „nicht gewalttätig”, was aber wohl keine nachvollziehbaren Konsequenzen hat.
Für diese sieht die Amtsdatei vor die Speicherung
biographischer Daten, der Zugehörigkeit zu Organisationen sowie der sogenannten Erkenntnistexte (EKT). Diese Erkenntnistexte dienen der Speicherung von zusammengefassten Ergebnissen aus der Auswertung von Informationen. [...] Die Gesamtheit aller zu einer Person oder einer Organisation gespeicherten Erkenntnistexte wird in einem sogenannten Hinweisblatt (HIBL) zusammengefasst. Dieses (elektronische) Hinweisblatt bietet damit einen umfassenden Überblick über die zu einer Person gespeicherten Erkenntnisse. (TF-Bericht, S. 5)
– es werden also offenbar beliebige Volltexte im Rechner gespeichert, was schon mal allen nichtgeheimdienstlichen Vorstellungen von Datenschutz Hohn spricht.
Entsprechend furchtbar stellen sich dann auch die Quellen dar. Der TF-Bericht äußert als Beispiele:
[Es] wurden im vom Niedersächsischen Verfassungsschutz beobachteten Bereich der autonomen Szene beispielsweise Erstspeicherungen aufgrund der Benennung auf Mitglieder- oder E-Mail-Verteilerlisten vorgenommen. (TF-Bericht, S. 26)
– das fand die Task Force auch erstmal in Ordnung. Etwas weniger zufrieden war sie mit blinden Abfragen beim Meldeamt:
Die Task Force hat die Löschung von personenbezogenen Speicherungen empfohlen, die darauf basierten, dass die Personen Bewohnerinnen oder Bewohner sogenannter „Szeneobjekte“ waren, also von Wohnhäusern, die nach polizeilicher Einschätzung von Personen der politisch linksorientierten Szene bewohnt sind. Im Zuge einer Meldedatenabklärung der „Szeneobjekte“ wurden Personen als Verdachtsfälle in der Amtsdatei neu erfasst. [... allerdings, später, für den Fall, dass wer schon Hoffnung geschöpft hat:] Die Task Force beanstandet das grundsätzliche Vorgehen einer Meldedatenerhebung in Bezug auf derartige Szeneobjekte zur Ermittlung von Personen nicht. Dies schließt auch die Personenabklärung mittels einer Vorlage von Lichtbildern bei einer Quelle mit ein. (TF-Bericht, S. 26f)
Schon fast unzufrieden war sie mit der summarischen Speicherung von Leuten beim Freitagsgebt – Religionsfreiheit ist gerade im autoritären Bereich ein hohes Gut:
In der bisherigen Speicherpraxis wurden regelmäßige Teilnehmerinnen und Teilnehmer an den in extremistisch eingestuften Moscheen durchgeführten Freitagsgebeten in der Amtsdatei gespeichert. Je nach Relevanz des Objekts erfolgte zunächst eine Aufnahme als Verdachtsfall oder aber eine Einstufung als Extremist. Letzteres hat regelmäßig eine automatische Verlängerung der Wiedervorlagefrist von fünf Jahren auf Basis der letzten zugespeicherten Erkenntnis, also auch jeder weiteren Teilnahme an einem Freitagsgebet, zur Folge. [...] Die Task Force sieht indes eine dauerhafte Speicherung von Moscheebesucherinnen und -besuchern allein aufgrund der regelmäßigen Teilnahme am Freitagsgebet [..] als für die Aufgabenerfüllung des Verfassungsschutzes nicht erforderlich an.
Speicherfristen
Laut Auskunft der Task Force vergibt der VS ohne nachweisbare Einzelprüfung immer die maximal zulässige Wiedervorlagefrist (so heißt die Speicherfrist bzw. Aussonderungsprüffrist beim VS in Niedersachsen); das sind fünf Jahre für „Extremisten” und zwei Jahre für Verdachtsfälle. Wirklich relevant ist das aber wohl in der Regel nicht, weil der VS die Prüfung eh nicht durchführt --
Die Task Force hat wiederholt festgestellt, dass Wiedervorlagefristen von Speicherungen zum Zeitpunkt der Überprüfung durch die Task Force bereits in teilweise erheblichem Umfang abgelaufen waren. Erklärt wurde dies mit den konkreten organisatorischen Abläufen bei der Abarbeitung der Wiedervorlagen. (TF-Bericht, S. 22)
Selbst wenn eine Wiedervorlage stattfindet, sind die Hürden für eine Weiterspeicherung nicht hoch. Das VS-Gesetz nennt allerdings Fristen von 10 (Systemgegnerschaft ohne Gewalt) bzw. 15 Jahren (mit Gewalt oder internationalem Bezug), nach denen ein Personeneintrag gelöscht werden muss, wenn sich keine Zuspeicherung konstruieren lässt.
Wie auch bei der Polizei häufig üblich, lässt eine Zuspeicherung die Fristen aller Eintragungen neu anlaufen. Das führ beim Niedersächsischen VS, der offensichtlich weitgehend wahllos alles speichert (also nicht nur Ermitlungsverfahren, wie es bei der Polizei üblich ist), zu besonders geheimdienstgemäßen Situaionen:
Ferner hat die Task Force festgestellt, dass die Wiedervorlagefrist vielfach an Tatsachen anknüpft, die nicht verlängerungsrelevant sind. Nicht verlängerungsrelevant sind solche Erkenntnisse, die keinen extremistischen Kontext oder sogar einen entlastenden Inhalt haben. Beispiele hierfür sind die Erfassung allgemeiner Personendaten oder Erkenntnisse darüber, dass sich eine Person von einer extremistischen Bestrebung gelöst hat. (TF-Bericht, S. 21)
Neben einer generellen Schwäche bei der Achtung der Verfassung liegt die weite Verbreitung dieses Phänomens in der Amtsdatei des Verfassungsschuzes auch an der Technik:
Die Eingabemaske zur Erfassung und Speicherung von Erkenntnissen beinhaltet ein Feld zur automatischen Verlängerung der Wiedervorlage um fünf Jahre. Dieses Feld ist bei einem Aufruf der Eingabemaske automatisch aktiviert.
Wer hat sich das wohl ausgedacht?
Zahlen
Die von der Task Force überprüfen Personeneinträge mögen oder mögen nicht einen guten Eindruck vom Gesamtinhalt der Amtsdatei geben – jedenfalls sah die Vereilung auf die vom VS ausgemachen „Phänomenbereiche” 2013 so aus:
Links |
Ausland |
Rechts |
1792 |
3025 |
2363 |
Weiteres
Liberalisierungen unter Rot-Grün?
Unter der Rot-Grünen Koalition in den 90-zigern wurden die Befugnisse von Polizei und Geheimdiensten erheblich zurückgeschraubt. Mit daran beteiligt war Rolf Gössner, der dazu einen Artikel in Cilip 45 geschrieben hat. Nach dem Wechsel zu Gelb-Schwarz wurde dagegen die Reform zurückgenommen und die Befugnisse von Polizei und Geheimdiensten erheblich ausgebaut (s.u.).
Polizeiliches Lamentieren 2003
Oberflächliche Einblicke in die EDV gewährt ein Leserbrief im Polizei Extrablatt (vgl Polizei-Extrablatt 11/2003(pdf)). Interessant ist hierbei die Erwähnung von "Mikado" und der Umstand. Dann heißt es dort: "Jetzt wird die Emulation gestartet und wenn ich Glück habe, ist eine POLAS-Session frei", was wohl bedeutet, dass POLAS damals noch über ein klassisches Terminal angesprochen wurde. Und: "POLAS/INPOL [kann ich] mit dem Windows-Rechner nicht erreichen [...] und mit dem Nivadis-Rechner [können keine] keine Datenbanken aufgerufen werden." Das klingt einerseits erfreulich, weil Auskunft und Vorgangsbearbeitung getrennt sind, wie sich das gehört, andererseits aber bedenklich, weil POLAS als Landes- und INPOL als Bundessystem eigentlich getrennt sein sollten. Wer mehr Licht ins Dunkel bringen kann -- go ahead.
Skandale
Detektei nutzt POLAS
1992/93 bekam eine Detektei Auskünfte aus POLAS (wenn auch wohl nur negative), weil sie so gerissen war, ein paar Polizeibeamte zu beschäftigen. Der Haupttäter bekam ein Disziplinarverfahren und wurde mit einer ganz stattlichen Pension aus dem Polizeidienst entfernt. vgl urteil ovg niedersachsen
Göttinger Überwachungsskandal
Ein Göttinger Anti-AKW Aktivist wurde 2004, wegen seiner Tätigkeit als Sprecher des Anti-Atom-Plenums Göttingen vor dem Castor-Transport pausenlos überwacht. Dafür gab es dann auch einen Big Brother Award. Weitere Skandale in Niedersachsen sind auf der Webseite politische justiz zu finden. (und warten auf Auswertung ...)
Polizeigesetz wird vom Verfassungsgericht kassiert
Niedersachsen wollte sich 2005 mit dem „modernsten Polizeigesetz der Welt” profilieren. In §33f wurde etwa unter sehr lockeren Voraussetzungen präventive Telekommunikationsüberwachung und allerlei andere Dinge, die eigentlich Geheimdienste angehen, erlaubt. Die Regelung der Übermittlung von Daten zwischen VS und Polizei wäre dem Verfassungsschutzgesetz überlassen. Dieses Polizeigesetz wurde vom Verfassungsgericht kassiert.
In diesem Zusammenhang wirft die Antwort der damaligen Landesregierung auf eine Anfrage zur Rasterfahndung 2001 ein aufschlussreiches Licht auf das entsprechende Rechtsverständnis.
Rechtswidrige Dauerobservation einer Kletteraktivistin
Eine Kletteraktivistin wurde im Jahre 2006 vor einem Castoreinsatz wochenlang vom mobilen Einsatzkommand (MEK) observiert. Dagegen hat sie Klage vorm Verwaltungsgericht eingereicht. Um die Klage abzuwenden, hat die Polizei die Rechtswidrigkeit der polizeilichen Observationsmaßnahme schriftlich anerkannt. Obwohl die Daten rechtswidrig erhoben wurden, hat die Polizei die Daten jedoch nicht gelöscht.
Staatsanwaltschaft in Göttingen ordnet DNA-Entnahme wegen Böllerwurf an
Ein Göttinger Antifa-Aktivist wurde von der Staatsanwaltschaft Göttingen anfang 2011 verpflichtet wegen eines angeblichen Böllerwurfes eine DNA-Probe abzugeben. Die Beschwerde dagegen hatte das Bundesverfassungsgericht nicht zur Entscheidung angenommen. Womit das letzte Rechtsmittel gegen die Entnahme erfolglos war und die Speichelprobe abgeben werden musste (vgl http://monsters.blogsport.de/2011/01/04/verfassungsgericht-erlaubt-dna-entnahme/). Von dem Tatvorwurf wurde er dann laut http://monsters.blogsport.de/2011/07/04/freispruch-fuer-martin-r/ im Sommer 2011 freigesprochen.
Big Brother Award für Drohnen-Einsatz
Der Innenminister von Niedersachsen Uwe Schünemann bekam 2011 den Big Brother Award für den Einsatz von Überwachungsdrohen bei den Demonstrationen zum Castor-Transport im Herbst 2010.
Beobachtung eines Journalisten durch den Verfassungsschutz
Ein Göttinger Journalist eines Lokalradios erfuhr 2011, nachdem er ein AuskunftErsuchen an das LfV geschickt hatte, dass er seit 14 Jahren vom Verfassungsschutz beobachtet wird. U.a. wurde die Teilnahme an legalen Demos vom Verfassungsschutz registriert (vgl taz). Einige Daten sind vermutlich durch die Polizei übermittelt worden, denn im Nachhinein hat die Polizei Göttingen zugegeben, dass sie bei einem AuskunftErsuchen gespeicherte Daten verschwiegen hatte (bzw vor dem Abschicken der Antwort gelöscht hatte). Weiteres unter http://monsters.blogsport.de/2011/11/07/nichts-genaues-weiss-man-nicht-auch-goettinger-polizeidirektion-ueberwachte-journalisten/.
Beobachtung eines Grünen-Landtagskandidaten
Ein Kandidat der Grünen für die Landtagswahl 2013 hat im Sommer 2012 die Auskunft vom LfV, dass er vom LfV beobachtet wird. U.a. wird von ihm ein Platzverweis, Teilnahme an Protesten gegen Moorburg und die Teilnahme an einer Kurden-Demo vorgeworfen. Wobei er zu Zeitpunkt der letzteren auf einer Parteiveranstaltung war. Weiteres unter http://www.taz.de/Oppositions-Bespitzelung/!98824/
40% der VS-Daten rechtswidrig gespeichert
Die Zustände bei der Amtsdatei des Verfassungsschutzes in Niedersachsen waren 2013 so haarsträubend, dass selbst ein autoritärer Scharfmacher wie der damalige Innenminister Boris Pistorius nicht umhin kam, eine „Task Force” einzusetzen, die die Speicherpraktiken des niedersächsischen VS untersuchen sollte. Diese Kommission war im Wesentlichen mit Leuten des VS selbst und des Innenministeriums besetzt, also gewiss keiner überschießenden Menschenrechtsliebe verdächtig; das dokumentiert etwa ihre Einschätzung, dass der VS eigentlich zunächst erstmal alles speichern kann:
Ebenfalls phänomenbereichsübergreifend lässt sich in diesem Zusammenhang feststellen, dass wiederholt Personen über einen erheblichen Zeitraum gespeichert wurden, die zwar einen möglichen Bezug zu einer extremistischen Bestrebung aufweisen, im Ergebnis aber unbedeutend für die Bestrebung bleiben. Die Erstspeicherung dieser Personen ist zunächst unproblematisch, da ihre Bedeutung für die Bestrebung in der Regel noch nicht zu überblicken ist, so dass die Speicherung zur Klärung eben dieser Frage erforderlich ist. (Abschlussbericht, S. 18)
Trotz dieses Herz-Jesu-Bürgerrechtsverständnisses kommt der Abschlussbericht der Kommission zu ziemlich vernichtenden Ergebnissen: 21% der 9004 untersuchten Speicherungen waren so missbräuchlich, dass sie als sofort löschpflichtig angesehen wurden, weitere 18% sind mit normalen Prozeduren zu löschen. Nicht auszudenken, zu welchen Ergebnissen Personen mit mehr bürgerrechtlicher Street Cred gekommen wären.
Innenminister Pistorius sah sich zu folgendem Eingeständnis genötigt:
Das ist erschreckend, weil es nicht um Versehen oder individuelle Fehler einiger weniger Mitarbeiter geht, sondern weil das System offenbar versagt hat und es keine Absicherung gab. Nach diesen Ergebnissen liegt ein Fall von Organisationsverschulden vor."
Ein Ärgernis am Rande ist, dass die Task Force riet, von einer Information der Speicheropfer über das an ihnen verübte Unrecht abzusehen, und zwar mit der bemerkenswerten Argumentation:
Angesichts der Zahl der Löschempfehlungen besteht nach Auffassung der Task Force die begründete Befürchtung, dass hierdurch die Arbeitsweise des Niedersächsischen Verfassungsschutzes aufgedeckt werden könnte. Insofern kann die Task Force eine derartige Information Betroffener nicht empfehlen.
– also: Das Unrecht ist so verbreitet, dass deutlich werden könnte, dass es Methode hat. Klassiker geheimheimdienstlicher Zirkelschlüsse, Nummer 7.
511 von 512 gespeicherten Veranstaltungen rechtswidrig
2016 wird bekannt, dass die Polizei in NIVADIS „Verlaufberichte” zu 512 Demonstrationen samt Anmelder_innen, Ordner_innen usf. gespeichert hat. Eine Prüfung durch den LfD ergab, dass satte 511 dieser Speicherungen rechtswidrig waren, denn:
Die Polizei kann mittels der NIVADIS-Speicherungen jederzeit wissen, wer an Demonstrationen teilgenommen hat. Das ist genau das Gegenteil von staatsfreier Grundrechtsausübung.
(„staatsferne Grundrechtsausübung” ist ein zentraler Begriff aus dem Brokdorf-Urtei des BVerfG, das wesentliche Eckpfeiler des Versammlungsrechts festklopfte). Im Rahmen der Aufklärung wurde auch ein Beispiel für einen Verlaufsbericht (mit Schwärzungen) befreit.
Automatische Schwärzungen bei VS-Auskünften
2018 tritt die VS-Präsidentin Brandenburger im Gefolge einer Auskunft zurück. In Kürze: jemand hat eine verweigerte Auskunft angefochten, in Vorbereitung auf den Prozess hat der VS weniger geschwärzte Akten ans Gericht gegeben, die der Klägerin mit den Prozessakten zugänglich wurden. Mit diesen Daten konnte ein VS-Spitzel in der Göttinger Linken enttarnt werden.
Der eigentlich Skandal wird etwas vorher in der HAZ vom 18.11.2018 berichtet:
Der Verfassungsschutz hat ein neues elektronisches System eingeführt, das sensible Stellen wie Namen in den Akten automatisch schwärzt. Anschließend überprüft ein Mitarbeiter, ob es nicht trotzdem noch für V-Männer heikle Passagen gibt, die dann per Hand aussortiert werden müssen.
– dass offenbar kategorisch und maschinell geschwärzt wird, mithin also potenziell erhebliche Grundrechtseingriffe ohne Einzelfallprüfung vorgenommen werden, das wäre eigentlich ein guter Grund für einen Rücktritt gewesen.
Menschenrechte ausüben ist „Treiben“
2021 schafft die Rot-Schwarze Koalition in Niedersachsen das Auskunftsrecht beim Verfassungsschutz ab, mit einer Regelung die das nicht vorhandene Auskunftsrecht im Bund noch unterbindet (es wird auch ein besonderes Interesse verlangt, die Auskunft aber zudem auf einen speziellen Anlass beschränkt). Anlass der Abschaffung des Grundrechts war eingestandnermaßen seine Nutzung. So schreibt der Münchner Merkur am 7.7.2021:
Damit soll der Verfassungsschutz entlastet werden. Massenhafte Anfragen insbesondere aus der linken Szene hatten dem Amt in der Vergangenheit viel Arbeit beschert. Eine Panne bei einer Abfrage führte 2018 zum Rücktritt der vorherigen Verfassungsschutzpräsidentin Maren Brandenburger. „Wir setzen diesem Treiben jetzt ein Ende“, sagte der CDU-Abgeordnete Sebastian Lechner.